„Digitale Nomaden“ – Zwischen Reise-Romantik und Alltagsstress
Immer unterwegs, ungebunden und selbstbestimmt: So wird das Dasein als „Digitaler Nomade“ rosig beworben. Was die ständigen Reisen anstrengend macht, wird hingegen weniger thematisiert.
Heute hier, morgen dort – die Digitalisierung macht es möglich. In vielen Jobs macht es keinen Unterschied mehr, ob jemand aus Honolulu oder aus Oslo am Online-Meeting teilnimmt. Das Leben als sogenannter Digital-Nomade bietet trotz Vollzeitjob maximale Bewegungsfreiheit. In den sozialen Medien zeigen Influencer, wie sie von einem Traumstrand zum nächsten reisen und die außergewöhnlichsten Co-Working-Spaces mit den ausgefallensten Kaffeekreationen frequentieren.
Über eine Sache sprechen allerdings die wenigsten: die eigene psychische Gesundheit. Dabei sind Einsamkeit und die Sehnsucht nach Familie und Freunden mit Abstand die Hauptgründe, weshalb das Nomadendasein aufgegeben wird. Das ergab eine Untersuchung der Online-Plattform „A Brother Abroad“ (ABA), die Antworten von mehr als 400 digitalen Nomaden aus über 40 Ländern ausgewertet hat. Zweiter kritischer Faktor sei eine sich einschleichende Reisemüdigkeit. Und es gibt weitere Herausforderungen, von denen die schillernde Social-Media-Welt in der Regel nicht erzählt.
Davon berichtet Erika Sipos, die als Beziehungs-Profilerin tätig ist. Bei ihrer Forschung zu Beziehungsmustern, insbesondere unter den modernen Nomaden, gleicht sie seit über fünf Jahren Persönlichkeitsprofile anhand von Schemata ab, die Menschen als Kinder und junge Erwachsene lernen. Eine Erkenntnis: Die überwiegende Mehrheit der befragten „Nomaden“ neigt bei Spannungen dazu, eine offene Konfrontation hinauszuzögern. Sipos bezeichnet sie als Alligator-Typ: „Das sind Menschen, die Konflikten lieber aus dem Weg gehen“, erklärt sie.
Zwei Kategorien unter Nomaden: Drachen und Alligatoren
Wenn es um romantische oder andere Beziehungen geht, unterscheidet die Expertin zwischen zwei Kategorien: Drachen und Alligatoren. „Der Drachen-Typ neigt dazu, offener vorzugehen.“ Er benennt Konflikte direkt. Der sogenannte Alligator-Typ brauche meist mehr Raum, bevor er damit umgehen könne, manchmal gehe er seinem Konfliktpartner lieber eine Zeit lang aus dem Weg. „Aber niemand ist zu 100 Prozent der eine oder andere Typ“, ergänzt Sipos. „Wir sind alle eine Mischung aus Merkmalen, und bevor wir Schlussfolgerungen ziehen, sollten wir uns die vorherrschenden unbewussten Verhaltensweisen und den breiteren persönlichen und kulturellen Kontext ansehen, in dem sie aufgewachsen sind.“
Dass das Arbeiten im Ausland auch mit Opfern verbunden ist, weiß die 44-Jährige, die derzeit in Budapest lebt, aus eigener Erfahrung: „Es gab Zeiten, in denen ich mich sehr einsam fühlte. Kinder wurden geboren und getauft, Hochzeiten gefeiert und ich war nicht da. Selbst als meine Großeltern starben, konnte ich nicht nach Hause kommen.“ Sipos ist neu im Nomadenleben, aber als international tätige Fachkraft arbeitete sie über 20 Jahre lang im Personalwesen an verschiedenen Orten – weit weg von ihrer rumänischen Heimatstadt Klus.
Kontakte, die man auf Reisen knüpft, können geliebte Menschen oder die Familie zu Hause kaum ersetzen, sagt die Expertin. Aufgrund des Reisens und der damit verbundenen Logistik würden sich viele „Nomaden“ in einem ständigen Zustand der Bereitschaft halten, um im Handumdrehen zu packen und von einem Ort zum anderen zu ziehen. Das lasse sie ihre Einsamkeit vergessen – und sie müssten sich nicht den Herausforderungen stellen, die es mit sich bringe, tiefere oder länger anhaltende romantische Verbindungen aufrechtzuerhalten, erklärt Sipos.
Auf Dauer ermüdend: ständig Dinge zurücklassen, weiterziehen
Neben dem Gefühl von Einsamkeit birgt dieser Lebensstil weitere Stressfaktoren. Versicherungs- und Steuerfragen, Kundenakquise und veränderte Lebenshaltungskosten können schnell zum Problem werden. Mehr als 80 Prozent der Digitalnomaden arbeiten nach Angaben des Portals Statista freiberuflich; das Einkommen schwankt. Hinzu kommen körperliche Anstrengungen des Reisens: „Ständig muss man Dinge zurücklassen, sich neu organisieren und orientieren – das kann auf Dauer sehr ermüdend sein.“
Und dennoch: Die ABA-Studie spricht von 35 Millionen Menschen, die weltweit als digitale Nomaden unterwegs sind – und zumindest theoretisch völlig ungebunden. Tendenz steigend.