Die Mannheimer Verlegerin Lisette Buchholz (persona-Verlag) hat es sich zur Aufgabe gemacht, verborgene Schätze der Literatur an die Öffentlichkeit zu bringen. Einer dieser Schätze ist der Gedichtband „An die Deutschen“ der unter den Aliasnamen Julia Renner und Juliette Pary schreibenden jüdischstämmigen Julia Gourfinkel aus Odessa (1903-1950). Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) schildert Buchholz ihre Motivation, dieses literarische Zeugnis jüdischen Widerstands gegen die nationalsozialistischen Massaker herauszubringen.
epd: Frau Buchholz, am 1. Oktober jährt sich der Todestag von Julia Gourfinkel alias Juliette Pary, zum 75. Mal. Warum ist es Ihnen wichtig, ihren Gedichtband „An die Deutschen“ zu veröffentlichen?
Lisette Buchholz: Weil es eine Stimme ist, die bis jetzt in Deutschland nicht gehört wurde, die sich aber dezidiert an uns wendet. „An die Deutschen“ heißt die Sammlung. Dieses Buch ist 1946 in Paris erschienen, was schon eine Merkwürdigkeit ist: in deutscher Sprache, in Paris, in einem Verlag, in dem Widerstandsliteratur in französischer Sprache erschienen ist. Und dieses Buch hat es nie nach Deutschland geschafft, ist nie über die Grenze gelangt.
epd: Pary schreibt auf Deutsch, was ja nicht ihre Muttersprache ist. Indem sie die Sprache derer benutzt, die sie anklagt, wird die Sprache zur Waffe. Wie ist das zu verstehen?
Buchholz: Sie ist in Odessa geboren, ist mit Französisch, Englisch, Russisch, Jiddisch aufgewachsen, und auch mit Deutsch, hat sehr früh deutsche Gedichte gelesen. Das beschreibt sie auch. Sie nimmt die Sprache der Feinde und schmiedet sie für sich um zu einem Instrument der Selbstbehauptung. Das ist ein sehr ungewöhnliches Vorgehen, und auch sehr mutig. Die Gedichte sind herbe Kost. Sie hat sich nicht gescheut, auch ihre eigenen Albträume auszusprechen. Mir sind ihre Gedichte wichtig, weil ich in ihr eine sehr eigene Stimme höre und ich finde, wir Deutschen sollten diese Stimme hören.
epd: Anklage einerseits – andererseits sucht sie das Miteinander, die Aussöhnung. Pary schätzt Heinrich Heine oder Johann Wolfgang von Goethe. Ist sie im Zwiespalt?
Buchholz: Ja, da ist eine durchgehende Ambiguität, die sie aushält und auch zur Sprache bringen kann. Das gelingt nicht jedem. Sie beschreibt nicht nur die Schrecken der Judenverfolgung, sondern setzt sich auch mit 5.000 Jahren Patriarchat auseinander und auch mit griechischer Philosophie, der jüdischen Religion. Es kommen die Gesetzestafeln von Mose vor, der Psychiater C.G. Jung (1875-1961). Juliette Pary sagt, ohne die Bekanntschaft mit dieser „Seelenkunde“ hätte sie die Gedichte nicht schreiben können. Sie schildert eben auch ihre inneren Kämpfe, ihre Zerrissenheit.
epd: Hat ihr das Schreiben geholfen, diese inneren Spannungen auszuhalten?
Buchholz: Zeitweise. Sie war eine sehr vielseitige Schreiberin. Sie hat sechs Bücher geschrieben, Romane und Sachbücher. Sie war eine der ersten Europäerinnen, die den israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948 beschrieben und darüber ein Buch gemacht hat. Sie hat unendliche sozialkritische Reportagen geschrieben für französische Magazine. Sie hat übersetzt aus verschiedenen Sprachen. Sie war unglaublich fleißig, vielseitig und auch hilfsbereit. Sie hat in verschiedenen Hilfsorganisationen gearbeitet, war am Ende aber dann doch verzweifelt. Sie ist jung gestorben. Wir haben erst spät erfahren, dass es wohl ein Suizid war.
epd: Sie haben den persona-Verlag 1983 in Mannheim gegründet, er wurde mit dem Deutschen Verlagspreis 2024 ausgezeichnet. Welche Genres verlegen Sie?
Buchholz: Ich habe angefangen mit Neuauflagen und Erstveröffentlichungen aus dem deutschen und österreichischen Exil von 1933 bis 1945. Das war meine Motivation, den Verlag zu gründen, auf der Suche nach dem anderen Deutschland, angeregt durch Studienaufenthalte in Osteuropa. Die Leute haben mir die Verfolgungsgeschichte ihrer Familien erzählt und wollten von mir wissen, wie ich dazu stehe. Ich habe mich dann mit der Geschichte des Nationalsozialismus beschäftigt und kam auf diesem Umweg zur Exilliteratur. Die Gedichte von Juliette Pary passen in diesen Exilkontext, denn sie hatte in Paris und in der Schweiz enge Beziehungen zu deutschen Migranten. (2388/23.09.2025)