Die Wunden der Befreiung von 1944

Sorgsam gepflegt wird das antike Erbe Roms. Mit Spuren aus jüngerer Vergangenheit geht die Ewige Stadt jedoch anders um. Bis heute finden sich eindrucksvolle Zeugen des letzten Kampfes um die Befreiung 1944 in Roms Vororten.

Azzurro-blau leuchtet der Himmel an diesem Frühlingstag. Die Fliederbüsche blühen und verbreiten ihren Duft zwischen niedrigen Einfamilienhäusern und mehrstöckigen Palazzi aus den 1960er-Jahren. Das alte Centocelle ist ein ruhiger Stadtteil im Osten Roms, etwa acht Kilometer entfernt vom historischen Zentrum. Auf den ersten Blick deutet nichts auf die Ereignisse hin, die sich hier vor 80 Jahren zugetragen haben. Doch gibt es sie noch, die Spuren einer erbitterten Schlacht.

Wo heute nur das leise Rauschen des Verkehrs auf der Via Casilina zu hören ist, peitschten am 4. Juni 1944 zahllose Schüsse durch die kleine Siedlung. Deutsche Soldaten leisteten letzten Widerstand, bevor die Alliierten endgültig in Rom einzogen und es damit als erste Hauptstadt Europas von den Nationalsozialisten befreiten.

Bis heute finden sich Überreste dieser “Schlacht von Centocelle” an einigen Häusern des Arbeiterviertels, das derzeit zu den beliebtesten Ausgehzielen junger, vornehmlich linker Römer gilt. Walter Di Domenico (50) wuchs in der schmalen Via Carpineto auf – genauso wie sein Vater Antonio. Dieser war an besagtem Junitag 1944 12 Jahre alt, seine große Schwester Gabriella eine 16-jährige Teenagerin. Hautnah erlebten sie den Kampf zwischen Besatzern und Befreiern.

Tante Gabriella erzählte ihrem Neffen bis zu ihrem Tod 2020 wiederholt von den Ereignissen jenes 4. Juni. Sein Vater hingegen schwieg. Laut Di Domenico war er zu sehr traumatisiert von seiner Kindheit im Zweiten Weltkrieg – etwa durch die Bomben, die auf dem benachbarten Militärflughafen niedergingen. Das nur wenige Hundert Meter vom Elternhaus entfernte Areal war zunächst Angriffsziel der Allierten und wurde später von den Deutschen komplett zerstört.

Knapp neun Monate lang besetzten die Nationalsozialisten Rom, deportierten Juden nach Auschwitz, internierten italienische Soldaten, verübten Massaker – meist als Vergeltung für Partisanenanschläge. Centocelle mit seinen Verbindungsstraßen sowohl ins römische Zentrum als auch in Richtung der Verteidigungsstellung gegen die Alliierten bei Monte Cassino lag für die Deutschen strategisch günstig. Eine Kommandozentrale, Kasernen und Lager hatten die Nazis in dem Vorort eingerichtet.

Vier Monate und Zehntausende Soldatenleben kostete es, bis für die Alliierten schließlich der Weg von Cassino nach Rom frei war. Alarmiert vom nahenden Einmarsch wurde Rom zur “offenen Stadt” erklärt, sollte nicht militärisch verteidigt werden. Die deutschen Truppen zogen Richtung Norden ab. Ihre Nachhut im Süden mühte sich derweil, die Alliierten aufzuhalten.

Verschreckt vom Grollen der Bomben und dem Knallen der Geschosse versteckt sich Walter Di Domenicos Familie am Morgen des 4. Juni 1944 im Haus, wie der 50-jährige Römer berichtet. In den Schutztunnel – einer von vielen in der Unterwelt von Centocelle – trauen sich seine Großeltern, sein Vater und seine Tante nicht. Der Zugang liegt im Garten des Hauses. So verharren die Vier still hinter halbgeöffneten Fensterläden und beobachten die Szenerie.

In einem knapp 50 Meter entfernten Haus auf der anderen Straßenseite haben sich zwei Wehrmachtssoldaten verschanzt. Es ist eines der wenigen zweigeschossigen Gebäude des Viertels. Vom oberen Stockwerk feuern sie über Stunden alle Munition ab, um die Alliierten an ihrem Vormarsch gen Zentrum zu hindern. Die Amerikaner erwidern das Feuer bis sich einer der Wehrmachtssoldaten mit einem weißen Tuch in den Händen ergibt. Laut der Erzählung von Di Domenicos Tante wird er von zwei Amerikanern durchsucht und abgeführt. Der damals 16-jährigen Gabriella sollen die beiden Alliierten versichert haben, ihn nicht zu töten. Sie seien nicht so schlimm wie die Deutschen und wollten die Dinge ändern.

Das Schicksal der beiden Amerikaner wie der jungen Deutschen ist ungewiss. Nachforschungen seitens seiner Familie habe es nicht gegeben, sagt Walter Di Domenico. Es blieb bei der einmaligen Begegnung, in deren Anschluss die Amerikaner das römische Zentrum schließlich erreichten.

Geblieben sind auch die Spuren jenes Tages. Bis heute ist die Fassade des schmutzig-orangefarbenen Hauses in der Via Carpineto mit Einschusslöchern übersät – leidlich grau vermörtelt von der Kommune, in deren Besitz das Gebäude nach dem Krieg überging. Weitere Häuser sowie das Bahndepot, in dem Di Domenicos Großvater einst arbeitete, teilen dieses Schicksal. Zunächst habe das passende Material gefehlt, um die Fassaden zu restaurieren, erzählt eine Anwohnerin. Dann sei es immer wieder aufgeschoben worden – bis heute.

Doch pünktlich zum Jahrestag der dramatischen Ereignisse scheint sich die sichtbare Geschichte des umkämpften Hauses zu wandeln. Die Stadt Rom plant dort, wo einst Soldaten für und gegen ihre Befreiung kämpften, eine Einrichtung für Menschen mit Behinderung. Nach der Restaurierung des Gebäudes werden die Spuren von Projektilen und Splittern verschwunden sein – nach 80 Jahren.