Palästinensische Flüchtlingslager im Norden der Westbank sind seit Monaten Ziel einer israelischen Militäroperation. Die Vertriebenen schauen fassungslos auf die Zerstörung und sehen keinen Weg zurück oder nach vorn.
Der Hügel südlich gegenüber Nur Schams: Näher ist Fuad Ghanem Kanooh in den letzten Monaten seinem Zuhause nicht gekommen. Seit die israelische Armee die Bevölkerung des palästinensischen Flüchtlingslagers zwangsvertrieben hat, kommt der 62-Jährige fast täglich hierher. Im Schatten von Pinien schaut er auf das, was einmal sein Zuhause war. Abrisslärm mischt sich ins Vogelgezwitscher. Bulldozer haben im Auftrag der Armee breite Schneisen in das dicht besiedelte Lager geschlagen. An ihren Rändern: der Schutt von Existenzen. Es riecht nach dem trockenen Sommer der Levante und dem Staub der Zerstörung.
Auch Khitam Abu al-Kheir steht auf dem Hügel an der westlichen Grenze von Tulkarem und filmt mit dem Handy. “30 Jahre lang habe ich gearbeitet, um mir ein Zuhause aufzubauen.” Ein Haus mit drei Wohnungen besitzt die 65-Jährige, die 30 Jahre für das UN-Flüchtlingshilfswerk für Palästinenser (UNRWA) als Hebamme gearbeitet hat. Eine bewohnte sie mit ihrer Familie, die beiden anderen waren vermietet. Die israelischen Angriffe richteten großen Schaden an dem Haus an. “Unsere Wohnung ist unbewohnbar, mein Herz gebrochen. Gott segne uns”, sagt sie.
Am 21. Januar begann Israel seine Militäroperation “Eiserne Wand” in Dschenin. Drei Tage später weitete die Armee ihren Radius auf das Flüchtlingslager Tulkarem aus, am 9. Februar auf Nur Schams. “Sie fingen an, die Infrastruktur zu zerstören, Wasser, Strom, Straßen, und dann Gebäude, den Jugendclub, einen Kindergarten, Zentren für Behinderte und Frauen”, sagt Nihad al-Schawisch. Er ist der Leiter des “Popular Service Committees” von Nur Schams, eine in vielen palästinensischen Flüchtlingslagern etablierte Einrichtung, die zwischen den Flüchtlingen, UNRWA und der Palästinensischen Behörde vermittelt.
Es sei nicht die erste Militärinvasion, sagt al-Schawisch. Er kommt über die Jahre auf 66 Razzien mit rund 100 palästinensischen Toten, Märtyrer aus palästinensischer Sicht. Diesmal sei es anders. “Von 13.000 Campbewohnern wurden 10.000 vertrieben. 300 Häuser wurden vollständig zerstört, das heißt, 1.500 Familien stehen ohne Zukunft da und ohne die Möglichkeit, wieder aufzubauen”, sagt er. Dutzende Palästinenser wurden seit Beginn der “Eisernen Wand” getötet, in Nur Schams auch eine 23-jährige hochschwangere Frau und ihr Ungeborenes.
Eine Begründung für ihr Vorgehen habe die Armee nicht geliefert, so al-Schawisch. Israel dagegen verweist auf Terrorbekämpfung. Vor allem die Flüchtlingslager im Norden des besetzten Westjordanlandes sieht es als Hochburgen militanter Palästinenser. Auch UNRWA, der wichtigste Dienstleister der Flüchtlinge, ist aus israelischer Sicht terroristisch unterwandert, indoktriniere Schüler mit Israel- und Judenhass.
“Israelische Streitkräfte schießen auf Bewohner, die versuchen, in ihre Häuser zurückzukehren”, beklagt das UN-Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA). Die Lager blieben für Bewohner wie für humanitäre Helfer gleichermaßen unzugänglich. Erstmals gingen jüngst Betroffene dagegen auf die Straße. Mehr als hundert Camp-Bewohner sollen sich laut Berichten in Tulkarem versammelt haben, um gegen die Hauszerstörungen zu protestieren.
Das israelische Adalah-Rechtszentrums für Minderheiten versucht unterdessen, rechtlich gegen Zwangsräumungen und Hausabrisse vorzugehen. Immer wieder argumentiert es vor dem obersten israelischen Gericht mit Menschen- und Völkerrecht, gegen die die israelische Armee verstoße. Der Protest bleibt meistens erfolglos. Selbst eine einstweilige Verfügung gegen die Zerstörung war nur von kürzer Dauer: Nach nur einem Tag erlaubte das Gericht der Armee, weitere Häuser abzureißen, sollten dringende Kampfhandlungen oder übergeordnete Sicherheitsinteressen dies erfordern.
Elf Häuser und eine Tankstelle habe seine Familie in Nur Schams besessen, erzählt Fouad Ghanem Kanooh. Jetzt seien sie dem Erdboden gleich, und die Familie zähle acht Märtyrer. Kanoohs Brüder. Neffen. Großneffen. “Entweder schießen sie auf einen, oder man wird verhaftet. Mehr Möglichkeiten gibt es nicht”, sagt er. Dann zitiert er aus dem Koran: “Und wir bestimmten für die Kinder Israels in der Schrift: wahrlich, zweimal werdet ihr auf Erden Verderben stiften.”
Fassungslos schaut der Palästinenser auf die Zerstörung. “Wir wurden ohne Grund aus unseren Häusern vertrieben.” Vor allem aber wisse niemand, wohin er gehen solle. “Wir kennen den Anfang, aber wir wissen nicht, wie es enden wird.” Fremd im eigenen Land seien sie, sagt Kanooh, der sich mit zehn Familienmitgliedern eine 3-Zimmer-Wohnung in Deir al Ghusun knapp zehn Kilometer nordöstlich teilt. Für mehr reiche das Geld nicht, und er sei mit 62 zu alt, um noch mal Arbeit zu finden. Die Menschen lebten von der Hand in den Mund.
“Alles weg. Dreißig Jahre Arbeit”, sagt Khitam Abu al-Kheir. Mit den Kleidern am Leib habe sie Nur Schams verlassen, gedacht, sie seien “für fünf oder sechs Tage vertrieben”, um dann nach Hause zurückkehren zu können. Das ist fünf Monate her. Die Palästinenserin hat mit ihren Töchtern in einem unfertigen Neubau Zuflucht gefunden. Ihr 82-jähriger Mann schlägt sich unterdessen durch, “eine Nacht hier, ein paar Nächte dort”.
Kabel hängen lose aus den Wänden, Planen ersetzen einen Teil der Türen. Im Flur stehen eine Leiter und Reste von Baumaterial. “Al-Salam”, der Frieden, heißt das Viertel zwischen Tulkarems beiden Flüchtlingslagern. Khitam Abu al-Kheirs Augen füllen sich mit Tränen, wenn sie an die Zukunft denkt. Die Familie verstreut, ebenso die Nachbarn, die “wie eine Familie” waren, und selbst der eigene Mann an einem anderen Ort. “Es gibt kein Zurück nach Nur Schams”, sagt sie, und eigentlich auch keinen Weg nach vorn: die Miete für ein Haus könnten sie sich nicht leisten. Was bleibt, ist eine verzweifelte Hoffnung auf Gott. “So Gott will, wird alles gut.”