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“Die Wartezeiten sind unterirdisch” – Schmerzpatienten unterversorgt

Schmerzpatienten fühlen sich in Deutschland schlecht versorgt. Es fehlt an ambulanten Behandlungsmöglichkeiten. Einige suchen Rückhalt in Selbsthilfegruppen.

Ihre Füße sind “kaputt”, im Handgelenk hat sie Arthrose. “Vielleicht hilft eine Operation.” – Sein Nacken ist versteift. Die Bandscheiben werden immer dünner; gehen ist nur mit dem Rollator möglich. Vor ein paar Tagen klappten zum ersten Mal die Geräteübungen im Fitnessstudio, doch: “Danach war ich total fertig.” – Mittwochstreffen des Vereins SchmerzLOS, einer Selbsthilfegruppe für Schmerzpatienten.

In einem Zimmer des örtlichen Krankenhauses am Stadtrand von Hamburg sitzen neun Menschen um einen Tisch mit “Gute-Laune-Postkarten”, so heißt es dort. “Hab Sonne im Herzen.” – “Sei heute glücklich.” Hier dürfen sie einmal im Monat “Dampf rauslassen”, sagt die Leiterin.

Ein paar der Teilnehmenden sind schon seit sieben Jahren dabei. Zum Beispiel Ingrid*. Bei ihr ist der Wirbelkanal geöffnet, die Nerven sind teilweise ungeschützt. Sie geht gebückt und nimmt Opioide. In ein paar Tagen muss sie zu einem MRT-Termin, sagt sie. “Mein Arzt meinte, der Kanal lässt sich wahrscheinlich nie mehr schließen.” Hannes* ist seit einem Jahr dabei: Ein paar Tage ging es besser. “Jetzt ist mir der Schmerz vom Rücken bis in die Beine gezogen”. Beim Treffen steht er immer wieder auf. Langes Sitzen klappt nicht. Hannes nimmt jeden Tag Schmerzmittel. Doch das Ziehen geht nicht weg. Er benötigt anhaltende ärztliche Behandlung. Und das kann dauern.

“Die Wartezeiten für chronische Schmerzpatienten sind unterirdisch”, sagt Heike Norda, Vorsitzende des Vereins SchmerzLOS. Norda leidet selbst seit 40 Jahren an chronischen Schmerzen. “Damals bin ich von Arzt zu Arzt gelaufen. Bis ich endlich eine Schmerzklinik gefunden habe.” Dort fand sie Spezialisten. “Da habe ich zum ersten Mal gehört, dass es so etwas wie chronische Schmerzen gibt”, sagt sie.

Chronische Schmerzen sind weit verbreitet in Deutschland. Nach Schätzungen der Deutschen Schmerzgesellschaft sind 23 Millionen Menschen betroffen. 18 Prozent dieser Patienten sind aufgrund ihrer Erkrankung nicht in der Lage zu arbeiten.

Im international anerkannten Diagnose-System ICD sind chronische Schmerzen mit dem Code R52.1 als eigene Erkrankung klassifiziert. Darunter fallen Schmerzerkrankungen unterschiedlicher Art: Einige Patienten haben Probleme im Rücken, andere am Becken, Gelenken oder Ohren. Chronische Schmerzen lassen sich durch Verfahren wie Physiotherapie bessern, oft aber nicht ganz beheben. Dann etwa, wenn Gelenke beschädigt und inoperabel sind. Dann müssen Medikamente her. Bei manchen Patienten genügen leichtere Mittel wie Ibuprofen. Bei anderen Patienten kommen härtere zum Einsatz, etwa Opioide wie Morphin.

In Deutschland gibt es für Schmerzpatienten spezialisierte Kliniken. Allerdings hauptsächlich zur stationären und teilstationären, kaum aber zur ambulanten Behandlung. Die Fallzahlen sind begrenzt. Pro Quartal darf ein Arzt nur 300 Schmerzpatienten annehmen. Insgesamt kann damit nach Angaben des Berufsverbandes der Ärzte und Psychologischen Psychotherapeuten in der Schmerz- und Palliativmedizin in Deutschland (BVSD) nur jeder elfte Patient mit chronischen Schmerzen versorgt werden.

Dazu wünschen sich viele Betroffene menschliche Unterstützung. Jan*, ein Teilnehmer der Selbsthilfegruppe, befindet sich an diesem Abend “in einer Depir-Phase”, sagt er. “Das Reha-Zentrum hat mich abgelehnt. Sie wollen keine Patienten, die Morphin nehmen.” Er blickt starr auf den Tisch.

Jan hat Schmerzen im Rücken und ist krank gemeldet. Er bekommt Arbeitslosengeld – noch. “Früher hab ich viel Geld verdient”, sagt er. “Aber das bringt mir jetzt nichts mehr.” Der Arbeitsagentur hatte er seinen Reha-Aufenthalt bereits gemeldet, seinen Nachbarn gefragt, ob der auf seinen Hund aufpassen kann. Nun muss er wieder zum Amt, sagt er. Ob er einen neuen Reha-Platz bekommen kann, weiß er nicht.

Norda sagt, sie habe sich mit ihrer Erkrankung allein gefühlt. “Ich musste mich erst an meine Situation gewöhnen und lernen zu akzeptieren, dass der Schmerz nicht mehr weggehen wird”, sagt Norda. In einer Umfrage der Einrichtung gab allerdings ein Großteil der Patienten an, sich nicht ernst genommen zu fühlen. Bei manchen von ihnen wirkt sich das auf die Psyche aus. Sie werden depressiv. Lange Wartezeiten verschlimmerten die Symptome oft zusätzlich.

Und die Versorgungssituation könnte sich in Zukunft verschärfen: Die geplante Krankenhausreform sieht für die Schmerztherapie keine eigene Leistungsgruppe vor. Die Deutsche Schmerzgesellschaft warnt deshalb vor einem möglichen “Kollaps”, wenn Spezialkliniken “ausgedünnt” werden könnten oder ganz wegfallen.