Die vergessene Katastrophe von Freetown

Im globalen Süden wachsen Städte zu schnell, auch in Freetown, Sierra Leones Hauptstadt. Darum hat ein Erdrutsch im August 2017 schlimme Auswirkungen. Doch die 1100 Toten geraten in Vergessenheit.

Häuser am Hang waren bei dem Erdrutsch in Freetown, Sierra Leone, besonders gefährdet
Häuser am Hang waren bei dem Erdrutsch in Freetown, Sierra Leone, besonders gefährdetImago / Xinhua

Marian L. Koroma steigen die Tränen in die Augen, wenn sie an den 14. August 2017 denkt. Es war früher Morgen, und der Regen prasselte auf das Wellblechdach ihres Hauses in Freetown, der Hauptstadt von Sierra Leone, Westafrika. Ihr Mann und sie hatten das Haus zwölf Jahre zuvor weit oben an einem der steilen Hügel gebaut. Er hatte ihr damals das Grundstück gezeigt, und sie war einverstanden.

„Mir gefiel der Ort, weil er weit weg von einem Bachlauf oder Fluss war“, erinnert sich die 40-Jährige. Mauern wurden hochgezogen, das Dach aufgesetzt, und das Paar zog mit seinen vier Kindern ein. „Es war unser Zuhause.“ Der Ort habe sich gut und richtig angefühlt. Dass er durch Starkregen und eine Schlammlawine weggerissen wird, hätte sich Marian nie vorstellen können.

Regen machte ihr Angst

Doch an jenem Montagmorgen gegen fünf Uhr weckte ihre Tochter sie; eine junge Frau, die gerade ihre erste Stelle als Lehrerin angenommen hatte. Der Regen machte ihr Angst. Um trockenen Fußes die nächste Straße zu erreichen und um zur Arbeit zu kommen, legten sie Holzlatten vor das Haus, gingen wieder ins Bett; bis ein lautes Geräusch sie weckte. „Ich rief laut: Jesus! Mein Mann sagte: Aber wir sind doch eine muslimische Familie. Du solltest Allah rufen. Wir lachten darüber, bis ein Nachbar kam, besorgt über den anhaltenden Regen.“

Marian Koromas Familie entschied sich, für alle Fälle ein paar Sachen zusammenzupacken, um anderswo das Unwetter abzuwarten. Doch es war viel zu spät. „Plötzlich krachte es wieder, und wir wurden von der Flut mitgerissen. Die Matratze, auf der wir geschlafen hatten, wickelte meinen Mann ein.“ Es ist eines jener Bilder, das sie nie vergessen wird.

Verzweifelt stehen die Menschen nach dem Erdrutsch für Essen an
Verzweifelt stehen die Menschen nach dem Erdrutsch für Essen anImago / Xinhua

Der Erdrutsch ist bis heute zu sehen, wenn man vom Strand in Freetown ins Landesinnere fährt. Auf einem der grünen Hügel, die die Stadt umgeben, klafft eine riesige braune Stelle von der Spitze bis ins Tal. Mehr als 1.100 Menschen kamen damals ums Leben, mehr als 3.000 wurden obdachlos. Makmid Kamara, zu jenem Zeitpunkt stellvertretender Leiter im Bereich globale Fragen bei der Menschenrechtsorganisation Amnesty International, sagt: „Die Tragödie war zu großen Teilen menschengemacht.“

Überall in Westafrika wachsen Städte in rasantem Tempo. Freetown wurde Ende des 18. Jahrhunderts von einstigen Sklaven gegründet. Anfangs lebten nicht mal 2.000 Personen hier; heute wird von 1,3 Millionen gesprochen. Neben einem Bevölkerungswachstum von 2,2 Prozent ist auch der fast elfjährige Bürgerkrieg dafür verantwortlich, der 2002 endete. Rund 2,5 Millionen Menschen wurden vertrieben; viele blieben in Freetown. Das habe die Stadt nachhaltig verändert, sagt der Priester Peter Konteh, Leiter von Caritas Freetown. „Neue Viertel entstanden, Bäume wurden gefällt. Man fing an, Holzkohle zum Kochen zu nutzen.“

Kaum bezahlbarer Wohnraum

Überhaupt noch bezahlbaren Wohnraum zu finden, wird vor allem für Menschen mit geringem Einkommen immer schwieriger. Mitunter müssen selbst für Wohnungen, die nicht für gut bezahlte Ausländer bestimmt sind, Mieten in US-Dollar bezahlt werden. Die Inflationsrate lag 2022 bei 27 Prozent. Gerade Küstenorte können nur begrenzt in die Fläche wachsen. Die grünen, steilen Hügel wurden deshalb in den vergangenen 20, 30 Jahren zum gefährlichen Baugrund. Verbote helfen wenig.

Dazu komme der Klimawandel, sagt Caritas-Leiter Konteh: „Klimawandel und die massive Abholzung sind die Hauptfaktoren. Wenn man die Natur so behandelt, kommt das negativ zurück.“ Auch im August 2022 starben wieder Menschen. Überschwemmungen sind in der Regenzeit längst zum Alltag geworden. Zu den Folgen gehört auch, dass sich Krankheiten wie Cholera schnell ausbreiten und Menschen mitunter lange nicht zur Arbeit können und kein Einkommen haben.

Leichen weggespült

An jenem 14. August 2017 wollte auch Favour, die einzige Tochter von Marian Koroma, eigentlich in die Schule gehen, in der sie unterrichtete. Die gleiche Flutwelle, die ihren Vater und die Brüder packte, ergriff auch sie. Es war der letzte Moment, in dem die Mutter sie lebend sah. Ihr Körper zerschellte wohl an einem der großen Steine. Schüler halfen später, die junge Lehrerin zu identifizieren. Marian Koroma weint leise, wenn sie darüber spricht.

Andere Leichen konnten nicht gefunden werden oder wurden kilometerweit weggespült. In Kamayama, am Fuße des Hügels, wo Marian Koroma heute lebt, ist es lange nach der Katastrophe noch passiert, dass nach neuen schweren Regenfällen plötzlich abgerissene Arme aus der Erde ragten.

Einmal ist Marian noch oben am Hang gewesen, zu einer Gedenkfeier ein Jahr nach der Katastrophe. Danach hat sie es nicht mehr ertragen. Ohnehin ist sie mit dem Überleben beschäftigt. „Ich muss mir alles wieder aufbauen.“ Organisationen leisteten zwar Hilfe und versorgten die Opfer. Versprechen der Stadt, sicheren Wohnraum zu schaffen, seien aber nie umgesetzt worden.