Die unerkannte Krankheit

Zwischen „allein sein“ und „einsam sein“ ist ein großer Unterschied. Das eine ist eine Zustandsbeschreibung, das andere ein Gefühl. Manfred Spitzer beschreibt, wie das eine zumeist selbst gewählt und wohltuend ist, das andere aber schmerzhaft.

Anfang 2018 installierte die britische Regierung ein „Ministerium für Einsamkeit“. Das neue Ministerium soll, so teilte Theresa May mit, „künftig der zunehmenden Vereinsamung von wachsenden Teilen der Bevölkerung entgegenwirken“. Es dabei geht um „Menschen, die niemanden haben, mit dem sie reden oder ihre Gedanken und Erfahrungen teilen können“.

Ähnliche Tendenzen sind in Deutschland im aktuellen Koalitionsvertrag wiederzufinden. Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach sieht die Zuständigkeit beim Gesundheitsministerium, und zwar mit Verweis auf die erheblichen medizinischen Folgen: „Die Einsamkeit in der Lebensphase über 60 erhöht die Sterblichkeit so sehr wie starkes Rauchen.“

Nicht nur ein Symptom, sondern eine Krankheit

In seinem Buch „Einsamkeit. Die unerkannte Krankheit“ geht der Psychiater Manfred Spitzer dem Phänomen der Einsamkeit nach und beschreibt es bereits im Untertitel als „schmerzhaft, ansteckend, tödlich“. Kernpunkt seines Buches ist es, eine etablierte Sichtweise der Psychiatrie zu verändern: „Einsamkeit ist nicht ‚nur‘ ein Symptom, also ein Krankheitszeichen, sondern sie ist selbst eine Krankheit.“

Schon in den ersten Zeilen des Vorwortes malt Spitzer düstere Bilder: Er spricht von einer Krankheit, die hierzulande immer häufiger auftritt, unerforscht ist, sich schnell ausbreitet und als eine der häufigsten Todesursachen in der westlichen Welt eingestuft wird. Obendrein begünstige diese Krankheit das Aufkommen anderer Leiden von Erkältungen über Depressionen bis hin zu Herzinfarkten, Schlaganfällen und Krebs.

In einer groß angelegten Materialsammlung mit vielen eigenen Forschungsergebnissen nimmt Spitzer den Leser an die Hand und führt ihn durch sein naturwissenschaftlich geprägtes Fachgebiet. „Auch mute ich dem Leser damit allerhand Details zu“, schreibt er. Tatsächlich wird man gelegentlich den einen oder anderen Satz zweimal lesen müssen, bis man ihn wirklich verstanden hat. Insgesamt aber gelingt es Spitzer, komplizierte und komplexe Gedankengänge einem breiten Publikum verständlich und nachvollziehbar zur Verfügung zu stellen.

Es gibt einen Unterschied zwischen „allein sein“ und „einsam sein“. Ersteres ist ein oftmals selbst gewählter Zustand. Man denke hier vielleicht an einen Mönch oder gar Eremiten. Das Einsamsein dagegen ist ein persönliches Erleben, ein subjektives Gefühl, das durchgängig als unangenehm und negativ empfunden wird.

Bislang war man bei der Beschreibung dieses Gefühls Einsamkeit auf Aussagen der betroffenen Person angewiesen. Durch moderne medizintechnische Apparate, etwa den Magnetresonanztomografen (MRT), kann man dieses subjektive Gefühl heute sichtbar machen und objektiv messen. Das MRT zeigt beim Empfinden von Einsamkeit an zwei Stellen im Gehirn eine klare Aktivität, die sich messen und bildlich darstellen lässt.

Der eine dieser Orte, die angezeigt werden, ist der „anteriore cinguläre Kortex“ (ACC). Interessant ist dabei, dass an derselben Stelle im ACC auch eine Reaktion angezeigt wird, wenn der Mensch Schmerz empfindet. Dieses auf den ersten Blick sonderbare Zusammentreffen so unterschiedlicher Gefühle liegt in der Geschichte der Menschheit begründet. Schmerz ist seit jeher das Gefühl und Signal, das anzeigt, dass irgendwo im Körper etwas nicht stimmt.

Einsamkeit ist ein Signal des Körpers

Schmerz ist eine wichtige Funktion, um unsere körperliche Unversehrtheit und unser Überleben zu sichern. Zum Überleben benötigte das Herdentier Mensch aber auch schon immer eine funktionierende soziale Gemeinschaft. Wer vor Zehntausenden von Jahren aus dieser Gemeinschaft ausgestoßen wurde, lief Gefahr, schnell Beute größerer Raubtiere zu werden.

Schmerz und Einsamkeit sind also Signale des Körpers, die das Überleben sichern. Daher sind sie auch im Gehirn an derselben Stelle im CC angesiedelt. Fast folgerichtig kann daher Einsamkeit, oder anders gesagt: sozialer Schmerz, auch mit einfachen Schmerzmitteln, wie etwa Parcetamol, behandelt werden und das Gefühl sowohl neurobiologisch als auch real empfunden vermindert werden. Als Therapie gegen Einsamkeit ist diese medikamentöse Behandlung aber nicht geeignet.

Spitzer zeigt in seinem Buch das gesamte naturwissenschaftliche Umfeld dieses Phänomens auf – auch für Laien sehr gut verständlich. Das Buch ist ausdrücklich keine Anleitung zur Selbsttherapie bei Einsamkeit, aber es verdeutlicht Mechanismen, die jeder von uns an sich vielleicht auch schon bemerkt hat und macht sensibel für Tagesabläufe, die die Einsamkeit nur weiter schüren. Am Ende gibt es ein paar nützliche Tipps, wie man sein Leben so gestalten kann, dass die Einsamkeit uns im täglichen Einerlei und dem Dschungel von technischen Medien nicht überkommt. Ein Buch ist bei Weitem kein Lebenshilferatgeber, aber es weiß Rat, dem Leben offenen Auges zu begegnen und ihm wieder auf die Beine zu helfen.