Die Superkräfte der Bärtierchen
Das Fieber- und Schmerzmittel des Echten Mädesüß oder der Insektenschutz der Ameisensäure – Pflanzen und Tiere sind unentbehrlich als Lieferanten medizinischer Wirkstoffe. „Naturschutz ist Menschenschutz“, fasst der Generaldirektor der Senckenberg-Gesellschaft für Naturforschung, Klement Tockner, zusammen. „Was der Natur zugutekommt, kommt der menschlichen Gesundheit zugute.“ Das Senckenberg-Naturmuseum in Frankfurt am Main erweitert ab 18. April seine Dauerausstellung um die Schau „Natur + Medizin“.
Die Ausstellung lässt staunen, wie schon Tiere die medizinischen Kräfte der Natur nutzen. Modelle in Schaukästen führen dies vor: So setzen sich Eichelhäher in die Nähe von Ameisenhaufen und nehmen ein Ameisenbad. Denn die Ameisen reinigen mittels ihrer Ameisensäure das Gefieder der Vögel von Parasiten, Bakterien und Pilzen, wie Kurator Thorolf Müller erklärt. Ähnlich schlau sind die Schwarzmaki-Lemuren auf Madagaskar: Sie knabbern Tausendfüßler an und reiben ihr Fell mit deren Sekret ein. Darin sind Benzochinone enthalten, die Insekten abwehren. Dabei genießen die Lemuren die Nebenwirkung, dass die Flüssigkeit berauschend wirkt. „Sie sind dann richtig high“, sagt Müller.
Die Vielfalt der Heilstoffe in der Natur macht ein wandgroßes Leuchtbild anschaulich: Es zeigt einen bunten Dschungel mit Pflanzen und Tieren in der Fantasie entsprungenen Größenverhältnissen. Über den rosa Blüten eines Fingerhuts schwebt ein Fischschwarm, auf einem gigantischen Austernpilz steht ein winziges Pferd. Gemeinsam sei den 110 abgebildeten Organismen, dass sie medizinische Wirkstoffe liefern, wie Kuratorin Adela Kutschke erläutert.
Hintergründe erklärt ein Terminal, auf dem sich die Lebewesen anklicken lassen. Dann erfahren die Besucher etwa, dass die getrockneten Blätter des Echten Mädesüß seit Jahrtausenden gegen Fieber und Schmerzen genutzt werden. Die Pflanze enthält nämlich das ätherische Öl Salicylaldehyd, aus dem Pharmafirmen die Acetylsalicylsäure (ASS) gewinnen, besser bekannt als Aspirin.
Aber auch „falsche Medizin“ zeigt die Ausstellung, darunter ein Tigerfell, den Stoßzahn eines Narwals oder Modelle des Horns eines Nashorns und eines Schuppentiers. Diese Tiere würden gejagt und getötet für vermeintliche Wirkstoffe, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt, sagt Kutschke. Auf eine weitere Verantwortung des Menschen weisen von der Decke hängende Modelle des Pestbakteriums, eines Malaria-Erregers und des Coronavirus hin. Sie mahnen an die Gefahr von Epidemien, wenn Krankheitserreger von Tieren auf Menschen überspringen oder umgekehrt. Dazu tragen etwa Tiermärkte oder die Massentierhaltung bei, die in Modellen dargestellt sind.
Die Forschung ist insbesondere fasziniert von tierischen Superkräften, wie Modelle einer Nacktmull-Kolonie oder 500-fach vergrößerte, in der Natur mikroskopisch kleine Bärtierchen vorstellen. „Die Bärtierchen überstehen fast alles, Hitze, Kälte, Sauerstoffmangel, Druck, Strahlung“, erklärt Kurator Müller. Sie könnten ihren Stoffwechsel bis zu einem todesähnlichen Zustand herunterfahren und so 20 Jahre überdauern. Die Nacktmulle, kleine Nagetiere, die in unterirdischen Höhlensystemen in Ostafrika leben, seien unempfindlich gegen Schmerzen, könnten ihr Erbgut reparieren und sich wirksam gegen Tumore wehren. Sie litten daher kaum an Krebserkrankungen und würden sehr alt. Diese Eigenschaften interessierten die medizinische Forschung stark.
80 Prozent der Arten seien unbekannt, und viele verschwinden, bevor ihre Wirkstoffe erkannt würden, sagt Müller. Die „Naturapotheke“ sei durch den Verlust der Artenvielfalt und die menschliche Ausbeutung der Naturressourcen stark bedroht, betont die Direktorin des Naturmuseums, Brigitte Franzen. Ein neuer Umgang mit der Natur sei auch für das weltweite Gesundheitswissen notwendig.