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Die Sache mit der anderen Wange

Sklavenmoral, Seelenheil, Strategie – Gedanken zum Predigttext am Sonntag Misericordias Domini. Von Hartmut Scheel, Pfarrer im Evangelischen Kirchenkreis Lichtenberg-Oberspree

Predigttext für Sonntag Misericordias Domini: 1. Petrus 2,21b–2521 Denn dazu seid ihr berufen, da auch Christus gelitten hat für euch und euch ein Vorbild hinterlassen, dass ihr sollt nachfolgen seinen Fußtapfen; 22 er, der keine Sünde getan hat und in dessen Mund sich kein Betrug fand; 23 der nicht widerschmähte, als er geschmäht wurde, nicht drohte, als er litt, er stellte es aber dem anheim, der gerecht richtet; 24 der unsre Sünde selbst hinaufgetragen hat an seinem Leibe auf das Holz, damit wir, der Sünde abgestorben, der Gerechtigkeit leben. Durch seine Wunden seid ihr heil geworden. 25 Denn ihr wart wie die irrenden Schafe; aber ihr seid nun bekehrt zu dem Hirten und Bischof eurer Seelen.

VonHartmut Scheel

Wir haben es hier mit Sklavenmoral zu tun: Mit Hilfe eines vertrauten Bekenntnisses, das wiederum an das Gottesknechtslied aus Jesaja 53 erinnert, werden christliche Sklaven zum Dulden von Unrecht ermuntert. Es geht dabei weniger um Nachfolge, als vielmehr um eine gewisse Solidarität mit dem leidenden Christus in seinen Fußstapfen. Im Original geht es um Musterbuchstaben, die die Schreibschüler zur Ausbildung der Feinmotorik nachmalen mussten. Dem sklavischen Dulden wird sicher nicht zugetraut, Sünden an Holz zu tragen.

Das Bild vom Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, ist mit der Aufnahme des Gottesknechtsliedes im Kopf. Auf diese Weise sind die Schafe und der Hirte, die am Ende auftauchen und Anlass sind, gerade dieses Stück aus dem 1. Petrusbrief am Gute-Hirten-Sonntag zu lesen, nicht ganz so überraschend. Die Sklaven und mit ihnen die Christen aller Generationen sind schlussendlich beim Hirten und Bischof ihrer Seelen bestens aufgehoben, weil das eigentliche Selbstwertbewusstsein eben nicht aus den erfahrenen Demütigungen rührt, sondern durch die Sühnetat Christi unangreifbar begründet ist. All die Demütigungen betreffen euch nicht wirklich, ihr seid frei und könnt von dieser Freiheit leben.

Es gibt bereits im Neuen Testament eine Tendenz, die Konsequenzen des neuen Glaubens zu verharmlosen. In der Gemeinde gilt nicht Sklave noch Freier – das ist subversiv. Dagegen ist auf lange Sicht die Sklaverei nicht zu halten (auch nicht die Unterscheidung von Ausländer und Eingeborenem und die Ungleichheit von Frau und Mann). Kurzfristig ist es – um den langfristigen Erfolg nicht zu gefährden – möglicherweise sinnvoll, mit Dulden zunächst scheinbar das System zu stützen. Wie weit aber darf solche Strategie gehen? Und ist Demut nicht auch missbrauchbar und Geduld oft eine Zumutung?

(…)

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