Die Ruhe schätzen lernen

Wer allein lebt oder allein ist, muss nicht unbedingt einsam sein. Die Buchautorin Dorothee Boss sieht im Alleinsein einen wichtigen Wert: Wer mit sich selbst im Reinen ist, kann besser auf Menschen zugehen und Beziehungen pflegen

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Der demographische Wandel bringt es mit sich: Immer mehr Menschen in Deutschland leben alleine. Und viele leiden darunter. Das muss nicht so sein, sagt Dorothee Boss. In ihrem neuen Buch bricht die Theologin und Mediatorin eine Lanze fürs Alleinsein. Warum, erläutert sie im Interview mit Andreas Laska.

Frau Boss, die Vereinsamung vieler Menschen wird als eine der Krankheiten unserer Zivilisation bezeichnet. Zahlreiche Ratgeber befassen sich damit, wie man die Einsamkeit überwinden kann. Sie aber bewerten das Alleinsein positiv. Warum?
Das Alleinsein ist zunächst einmal eine menschliche Grundkonstante. Wir Menschen sind soziale Wesen, wir sind aber auch Individuen, die regelmäßig in die Situation kommen, allein zu sein. Wir dürfen uns in dieser Situation also nicht als Opfer sehen, sondern müssen lernen, das Alleinsein aktiv zu gestalten. Übrigens sehen das auch verschiedene Religionen so. Im Christentum etwa wird das Alleinsein keineswegs als defizitär gesehen. Es ist eine Grenzerfahrung, aus der heraus viel Positives erwachsen kann. Man denke nur an die zahlreichen Eremiten der Kirchengeschichte. Aber auch im Buddhismus hat das Alleinsein einen hohen Wert.

Was macht in Ihren Augen diesen Wert aus?
Nur wenn ich allein bin, kann ich mich selbst spüren und mich mit mir auseinandersetzen. Das setzt allerdings voraus, dass ich das Alleinsein annehme und nicht als etwas Störendes empfinde. Das freilich will gelernt sein.

In Ihrem neuen Buch sagen Sie: „Die Fähigkeit, gut mit sich allein sein zu können, ist eine wesentliche Voraussetzung für Beziehungsfähigkeit.“ Warum?
Zur Beziehungsfähigkeit gehört, dass ich mich selbst kenne und annehme. Wenn ich in einer Beziehung ganz aufgehe, dann besteht die Gefahr, dass ich mich selbst auflöse. Wenn ich mich aber selbst gut kenne, dann kann ich dem anderen auch viel mehr geben.

Umgekehrt aber werden Menschen, die viel allein sind, oft seltsam und eigenbrötlerisch. Ist das nicht ein Widerspruch?
Es kommt einmal mehr darauf an, wie ich das Alleinsein deute. Fühle ich mich gekränkt, vielleicht sogar nutzlos, dann ziehe ich mich ganz auf mich selbst zurück und werde in der Tat eigenbrötlerisch. Wenn ich aber das Alleinsein aktiv annehme, wenn ich also mit mir und der Situation im Reinen bin, dann habe ich auch die Kraft, aus dieser Situation auf Menschen zuzugehen und Beziehungen zu pflegen. Und dann ist Alleinsein nicht mit Vereinsamung gleichzusetzen.

Viele Kinder lernen heute kaum noch, sich allein zu beschäftigen. Immer gibt es ein Programm, gibt es Bespaßung. Welchen Einfluss hat das auf die kindliche Entwicklung?
Hier sehe ich in der Tat ein großes Problem. Weil um die Kinder herum immer action ist, weil die Eltern alles organisieren und planen, wissen viele mit sich selbst nichts mehr anzufangen. Wie viele Kinder stromern denn noch einfach so durch den Wald, wie das früher gang und gäbe war? Aber wer als Kind nicht gelernt hat, sich mit sich selbst zu beschäftigen, dem fällt das als Erwachsenem umso schwerer.

Viele Menschen haben regelrecht Angst davor, alleine zu sein. Sie suchen ihr Heil in der fortdauernden Kommunikation auf allen Kanälen. Kann man diese Angst überwinden?
Ich denke schon, wobei die Art des Überwindens natürlich individuell ist. Der eine schafft das alleine, der andere muss sich Hilfe holen. Wichtig ist, dass man die Ruhe des Alleinseins schätzen lernt. Religiöse Menschen finden diese Ruhe vielleicht im Gebet, andere in der Ausübung einer Beschäftigung oder eines Hobbys. In jedem Fall verlangt das Geduld und Übung.

Nun gibt es Menschen, die unfreiwillig allein sind – weil sie den Partner verloren haben, weil Kinder ausgezogen sind, weil es sie beruflich in eine unbekannte Stadt verschlagen hat. Sie empfinden das Alleinsein bestimmt nicht als Bereicherung. Was raten Sie diesen Menschen?
Es ist ganz normal, dass Menschen in solchen Situationen das Alleinsein zunächst einmal als krisenhaft erleben. Wer unfreiwillig, oft auch ziemlich abrupt allein zurückbleibt, der braucht Zeit, um sich von seinem alten Leben zu verabschieden. Das ist eine Zeit der Trauer und der Trauerarbeit, die selbstverständlich dazugehört. Beim einen dauert sie länger, beim anderen kürzer, oft verläuft das auch in Wellen. Aber in jeder Trauer steckt auch die Chance auf einen Neuanfang, und die sollte man nicht ungenutzt lassen.

Was raten Sie Menschen ganz praktisch, damit sie das Alleinsein nicht als Belastung empfinden?
Menschen, die viel allein sind, laufen oft Gefahr, sich treiben zu lassen. Ich rate ihnen deshalb, ihren Tag zu strukturieren. Am Anfang darf das ruhig sehr penibel sein, indem man zum Beispiel sehr exakte Essenszeiten einhält. Überhaupt das Essen: Bereiten Sie sich etwas zu, tun sie sich etwas Gutes. Suchen Sie sich eine Beschäftigung, und wenn es nur ein gutes Buch oder der tägliche Spaziergang um den Block ist.
Zum anderen sollte man die Mitmenschen keinesfalls aus dem Blick verlieren. Einmal pro Woche mindestens sollte man etwas mit anderen oder besser noch für andere tun. Und zu guter Letzt: Nehmen Sie sich nicht allzu ernst. Auch wenn man sich viel mit sich selbst beschäftigt, sollte man nicht verlernen, über sich selbst zu lachen. Dieser Humor hilft ungemein.