Die Rückseite des “goldenen Amsterdams”

Das an den Pfahl gebundene Mädchen hat die Augen geschlossen, die Arme hängen schlaff herab. Neben dem Kopf baumelt ein Beil, die Tatwaffe. Die 18-jährige Dänin Elsje Christiaens suchte wie Zehntausende Europäer im 17. Jahrhundert ihr Glück in der boomenden Welthandelsmetropole Amsterdam. Doch nach sechs Wochen hatte sie ihr Geld verbraucht. Im Streit mit der Vermieterin erschlug sie diese im Affekt. Das Mädchen wurde nach ihrer öffentlichen Erdrosselung zur Abschreckung auf der Galgeninsel aufgehängt. Rembrandt und weitere Künstler zeichneten 1664 den Leichnam am Pfahl, ganz realistisch. Die kleinformatigen Kunstwerke sind im Städel-Museum in Frankfurt am Main in der neuen Schau „Rembrandts Amsterdam. Goldene Zeiten?“ vom 27. November bis 23. März 2025 zu sehen.

„Die goldenen Zeiten waren nicht für alle Menschen in Amsterdam golden“, sagt Städel-Direktor Philipp Demandt. In den Meisterwerken Rembrandts und seiner Zeitgenossen offenbare sich bei genauem Blick eine Stadt im Umbruch, gekennzeichnet durch klaffende soziale Unterschiede. Elsje ist ein Beispiel für die Rückseite des wirtschaftlichen Erfolgs und Reichtums. Die Verlierer, die Armen, die Waisen seien als nicht bildwürdig erachtet worden, erklärt Kurator Jochen Sander. In der zu Rembrandts Lebzeiten von 30.000 auf rund 200.000 Einwohner angewachsenen Stadt Amsterdam hätten allein die oberen 5.000 Bürger bestimmt – und Bilder in Auftrag gegeben.

Dafür typisch in Amsterdam sind nach den Worten von Sandner Gruppenbildnisse: Schützengilden, Regenten von städtischen Einrichtungen und Vertreter von Berufsständen ließen sich stolz abbilden – in der Regel Männer in uniformen schwarzen Hüten und Mänteln mit weißem Mühlkragen. Doch bei genauem Blick auf die Meisterwerke offenbaren sich soziale Abgründe. Die Schau wolle den Scheinwerfer gerade auf das Beiwerk der Gruppenbildnisse und auf die Ausnahmeporträts richten, erläutert Direktor Demandt: „Wir werfen einen ungeschönten Blick auf die Amsterdamer Wirklichkeit im 17. Jahrhundert.“

So lassen sich die Vorsteher des Armenhauses porträtieren mit den Armen und Behinderten, um die eigene Wohltätigkeit zu vorzuführen. Waisenkinder sind als Demonstrationsobjekte im Gruppenporträt der Regenten des Bürgerwaisenhauses abgebildet. Entblößte Frauen oder gar Prostituierte waren ein gesellschaftliches Tabu, dennoch haben die Ausstellungsmacher zwei solcher Darstellungen gefunden. Eine, die „büßende Maria Magdalena“ von Dirck Bleker (1651), reckt einen fülligen Busen enthüllt nach vorn. Sie ist dank Gerichtsakten als Maria Jonas bekannt. Die Ehefrau des Kaufmanns Bartholomeus Blijdenberch hatte in dem Maria-Gemälde ihres Mannes die Prostituierte erkannt, die er regelmäßig aufsuchte, und reichte die Scheidung ein.

Insbesondere Rembrandt Harmenszoon van Rijn (1606-1669) hatte nach den Worten von Kurator Sander den Anspruch, nicht nur vermögende Auftraggeber, sondern auch die andere Seite der Gesellschaft abzubilden. So zeigt die Ausstellung kleinformatige Radierungen von Bettlern, den fahrenden Musikanten, den Rattengiftverkäufer, den blinden Drehleierspieler, die Pfannkuchenbäckerin. Rembrandt gehe sogar so weit, einigen dieser Personen die eigenen Gesichtszüge zu verleihen. Sander macht auf eine Leerstelle aufmerksam: Der Reichtum Amsterdams habe auch auf einer aggressiven Handels- und Kolonialpolitik der Vereinigten Niederlande beruht. Doch Darstellungen schwarzer Menschen gebe es so gut wie keine.

Die Ausstellung präsentiert rund 100 Gemälde, Skulpturen und Druckgrafiken neben Rembrandt von Jacob Backer, Ferdinand Bol, Govert Flinck, Bartholomeus van der Helst und weiteren Amsterdamer Künstlern des 17. Jahrhunderts. Die in Deutschland einzigartige Schau der Gruppenbildnisse ist nach den Worten von Demandt durch den derzeitigen Umbau des Amsterdam-Museums möglich geworden. Das Städel-Museum steuert Werke bei, weitere Leihgaben stammen aus Museen wie dem Rijksmuseum in Amsterdam und dem Metropolitan Museum of Art in New York.