Die Pionierin der Straßenmagazine geht

Seit 25 Jahre ist Birgit Müller Chefredakteurin des Hamburger Straßenmagazins Hinz&Kunzt. Sie schreibt über das Elend in der Stadt und verliert trotzdem nicht die Zuversicht. Jetzt tritt sie in den Ruhestand.

Birgit Müller im Oktober 2018 bei einer Versammlung mit Verkäufern
Birgit Müller im Oktober 2018 bei einer Versammlung mit VerkäufernStephan Wallocha / epd

Hamburg. Es begann mit ehrenamtlichem Engagement im Urlaub: 1993 kam Birgit Müller zum Gründungsteam des Hamburger Straßenmagazins Hinz&Kunzt. Kurz darauf kündigte sie ihre Redakteursstelle beim „Hamburger Abendblatt“ und übernahm Anfang 1996 die Chefredaktion. Mittlerweile gilt Hinz&Kunzt als Flagschiff unter den deutschen Straßenmagazinen mit der höchsten Auflage. Doch nach 25 Jahren ist Schluss: Zum Jahresende tritt Birgit Müller (64) in den Ruhestand.

Die Idee für eine neue Zeitung hatte Hamburgs Diakonie-Chef Stephan Reimers: Obdachlose selbst sollten ein journalistisch anspruchsvolles Magazin verkaufen. Einen Teil der Einnahmen behalten sie. Vorbild war das Londoner Straßenmagazin „Big Issue“. Wenige Wochen vor Hinz&Kunzt wurde „Biss“ in München gestartet. Im November 1993 erschien dann das Hamburger Blatt als erstes Straßenmagazin im Norden mit einer Auflage von 30.000 – und die musste prompt erhöht werden.

Dreist ans Werk

Mit „Dreistigkeit“ sei sie ans Werk gegangen, sagt Birgit Müller heute. Sie habe bis dahin kaum persönliche Begegnungen mit Obdachlosen gehabt. Mühsam habe sie gelernt, dass sie nicht nur eine Wohnung brauchen, sondern vor allem Zeit, um ihr Leben nachhaltig zu ändern. Sie selbst habe viele Vorurteile gehabt, ohne sich dessen bewusst zu sein. Oft werde gesagt, Obdachlose sollten „eine zweite Chance“ bekommen, sagt Müller. „Die meisten haben ja nicht mal eine erste gehabt.“ Bei manchen sei die Angst vor dem Scheitern so groß, dass sie gar nichts Neues anpacken können.

Birgit Müller
Birgit MüllerStephan Wallocha / epd

Als Chefredakteurin war ihr von Anfang an wichtig, dass die Zeitung von Profis gemacht wird. So hat das Blatt die Arbeitsbedingungen von Zimmermädchen in Hamburger Hotels öffentlich gemacht, einen Immobilien-Skandal bei der Vermietung an Hartz-IV-Empfänger und die katastrophalen Zustände in der Fleischindustrie. Müller: „Das war lange vor Tönnies.“ Doch ihr war immer wichtig, die Zuversicht nicht aus dem Blick zu verlieren. „Bloß kein Jammerblatt!“, sei ihre Devise. So gehört Kultur bis heute zum Markenkern. Von dem frühen Redaktionsteam sind die meisten immer noch dabei. 2016 erhielt Müller das Bundesverdienstkreuz.

Verkauft wird Hinz&Kunzt von Obdachlosen und Ehemaligen. Vom Verkaufspreis von 2,20 Euro behalten sie die Hälfte. Für die aktuell 530 Verkäufer von Hinz&Kunzt gibt es klare Regeln: Jeder hat einen Ausweis dabei, Alkohol und Betteln mit der Zeitung sind tabu. Trinkgeld und ein kleiner Schnack sind gern gesehen. Es sei ein Geschäft „auf Augenhöhe“, sagt Chefredakteurin Müller. Derzeit liegt die Auflage bei rund 60.000.

Nachfolgerin kommt vom „Spiegel“

Die Lage der Obdachlosen ist nach den Worten Müllers auch immer Spiegelbild der gesamtpolitischen Lage. Die Wende brachte Obdachlose aus Ostdeutschland, mit der EU-Erweiterung kamen Menschen aus Osteuropa. Doch es falle ihr zunehmend schwerer, sich den Optimismus zu bewahren, räumt sie ein. Vor allem für Rumänen und Bulgaren gebe es in Hamburg kaum Wege aus der Obdachlosigkeit. Es fehle ein Masterplan gegen die Verelendung.

Ihre Nachfolgerin, die ehemalige „Spiegel“-Redakteurin Annette Bruhns, hat sie bereits eingearbeitet. Die ursprünglichen Pläne für ihren Ruhestand hat Birgit Müller erst einmal gekippt. Längere Reisen sind derzeit nicht möglich, und Besuche bei Freunden und ihrer Patchworkfamilie sind stark eingeschränkt. So will sie sich erst einmal viel draußen bewegen und die Muße genießen. (epd)