Die Papp-Kathedrale

Ein schweres Erdbeben hat vor acht Jahren die Kirche in Christchurch in Neuseeland stark beschädigt. Damit die Gemeinde schnell wieder ein Gotteshaus hat, errichtete der japanische Architekt Shigeru Ban einen Kartonagendom

Von Peter Beyer

Beim schweren Erdbeben von 2011 starben im neuseeländischen Christchurch 185 Menschen. Der Kirchturm der Kathedrale stürzte ein und beschädigte Teile des restlichen Gebäudes – die Gemeinde verlor ihr Gotteshaus, die Stadt ihr Wahrzeichen. Aus 96 Kartonagenröhren improvisierte der japanische Architekt Shigeru Ban anderthalb Jahre später einen 700 Personen fassenden Kartonagendom. Inzwischen ist diese weltweit einzigartige Kirche eine Touristenattraktion.
Schon nach dem verheerenden Erdbeben von Kobe 1995 hatte Shigeru Ban dort einen temporären Kirchenbau errichtet. Der japanische Architekt, der von Katastrophengebiet zu Katastrophengebiet eilt und mit dem „Nobelpreis für Architektur“, dem Pritzker-Preis, ausgezeichnet wurde, greift bei seinen „Notbauten“ grundsätzlich auf Materialien aus der Region zurück – und verzichtet dabei auf sein Honorar.
So auch im Falle Christchurch. „Unsere neue Kathedrale wird auch als Cardboard Cathedral bezeichnet, da sie im Wesentlichen aus lackierten Kartonröhren mit baumdickem Durchmesser besteht“, berichtet Kirchenführer Chas Muir und hält den verblüfften Besuchern ein Stück dicker Papprolle entgegen, das aus mehreren miteinander verleimten Pappschichten besteht. Tatsächlich stammen diese Pappröhren der neuen Kathedrale von Christchurch von einer Fabrik im Osten der Stadt, werden normalerweise als kürzere Versionen in Geschäften als Teppichrollen verwendet, als Versandrollen für Poster und als Rollen, auf denen Stoff aufgewickelt wird.
Zu Beginn war der Bau der Cardboard Cathedral durchaus umstritten – die Ruine der altehrwürdigen Kathedrale aus Stein steht immer noch, ihre Zukunft ist ungewiss. Chas Muir aber, der das damalige Erdbeben hautnah erlebte und zu den Ersthelfern zählte, hat das Konstrukt aus Pappe längst ins Herz geschlossen. „Ich liebe die neue Kathedrale, weil sie den Gläubigen rasch wieder einen Raum zum Beten bot, weil sie ökologisch ist, aus schnell wachsenden Rohstoffen besteht. Und weil sie so günstig war“, fügt der 67-jährige Ehrenamtler hinzu.
Umgerechnet hat sie nur 3,4 Millionen Euro gekostet und bietet 700 Personen Platz. Die Kartonröhren sind jeweils 17 Meter lang und wurden von den Gemeindemitgliedern in Eigenarbeit lackiert, damit sie der Feuchtigkeit standhalten. 96 Kartonagenröhren bilden das Grundgerüst. Auf einem Fundament aus 150 LKW-Ladungen Beton stehen an beiden Längsseiten des Gebäudes Baucontainer, in denen Küche, Büros und Sakristei untergebracht sind. Die Außenhaut besteht aus Polycarbonat und lässt das Sonnenlicht ins Gebäude.
Auch kleinere Versionen der Papp­rollen wurden in der Kirche verwendet, etwa beim Chorgestühl, der Kanzel, den Spendenbüchsen und einem Kerzenhalter. Eine kleine Werktagskapelle mit Pappaltar besitzt bewegliche Wände – natürlich aus aneinandergefügten Papprollen.
Bei der Rekonstruktion der charakteristischen Fenster der alten Kathedrale – auch sie waren dem Erdbeben zum Opfer gefallen – half die Technik: „Da es reichlich Fotos der Fenster gab, konnten sie rekonstruiert und über HD-Drucker neu auf Plexiglas gebrannt werden“, erzählt Chas Muir den staunenden Besuchern. Inzwischen ist „seine“ Kirche eine Touristenattraktion und bekommt jährlich Besuch von über 400 000 Menschen. Sie wurde im August 2013 als erstes öffentlich errichtetes Gebäude nach dem Beben eingeweiht.
Nebenbei arbeitet Kathedralführer Chas Muir in der Obdachlosenfürsorge und seine Frau im Verkaufsladen der Kathedrale, in der fast jeder Besucher eine Postkarte, Schlüsselanhänger oder ein Buch über die Entstehung und Architektur des Gebäudes erwirbt.
Wer die Papp-Kathedrale schließlich voller Eindrücke verlässt, wird nur eine Straßenecke weiter an das schreckliche Ereignis erinnert, das zu ihrem Bau führte. Dort gedenkt eine Installation des Künstlers Peter Majen an die Opfer der Erdbebenkatastrophe. Majen stellte kurz nach der Katastrophe 185 weiß angemalte Stühle gegenüber dem ehemaligen CTV-Gebäude auf, bei dessen Einsturz es die mit Abstand meisten Toten gab. Jede Sitzgelegenheit steht für einen Toten, egal ob Schaukelstuhl, Ohrensessel, Bürostuhl oder Babystühlchen.