Die Nächstenliebe

Diskutiert wird heute: Was bedeutet das Gebot, den Nächsten zu lieben wie mich selbst? Zuerst ich, dann die anderen – was ist daran falsch? Kann Liebe ein Gebot oder gar ein Befehl sein?

Von Wolf Krötke

Diskutiert wird heute: Was bedeutet das Gebot, den Nächsten zu lieben wie mich selbst? Zuerst ich, dann die anderen – was ist daran falsch?

Kann Liebe ein Gebot oder gar ein Befehl sein? Vom Preußenkönig Friedrich Wilhelm I. wird erzählt, dass er einen Untertanen, der aus Furcht vor ihm flüchtete, mit den Worten verprügelte: „Lieben sollt ihr mich, nicht fürchten.“ Dieser Untertan hat ihn bestimmt nicht lieben gelernt. Denn unter „Liebe“ verstehen wir vor allem eine Regung des Herzens, ein Berührtsein vom anderen Menschen, das sich einstellt, wenn wir ihm begegnen. Liebe kann man nicht befehlen. Liebe regt sich in uns, wenn ein Mensch uns nahe kommt, dessen Menschsein uns in unserem Lebensempfinden bereichert und erfreut. Liebe ist in diesem Sinne eine beglückende Erfahrung.Doch meint das Gebot der Nächstenliebe diese so gefühlsbetonte Liebe? Es kommt ihr jedenfalls nahe. Denn es ist nicht die abstrakte Forderung eines Tyrannen, der selbst nichts vom Lieben versteht. Ihm fehlt jeder Befehlston. Weil Gott uns liebt und mit uns zusammen Gott sein will, ist sein Gebot vielmehr eine Einladung mit Ausrufezeichen. Sie lautet: „Gib mir dein Herz“ (Sprüche 23,26). Sie lautet weiter: Nimm teil an der „Weite des Herzens Christi“ (Dietrich Bonhoeffer), dessen Herz so wie meins für deinen „Nächsten“ schlägt.Aber: „Wer ist denn mein Nächster“? – ist Jesus von einem ganz Schlauen gefragt worden (Lukas 10,29). Der hatte die Menschen taxiert. Da war er zu dem Schluss gekommen, sich den allzu nahen Nächsten doch lieber vom Leibe zu halten. „Ich kann meinen Nächsten nicht aus der Nähe lieben“, hat Albert Camus gesagt. Der nahe Nächste mit seinen Eigenheiten, seiner anderen Religion und Kultur, ist nicht der, mit dem wir normalerweise zusammen sein wollen. Zur „Fernstenliebe“ – „seid umschlungen Millionen“! – wird deshalb das Gebot der Nächstenliebe gerne ermäßigt.Doch ins allgemeine Lieben lässt Jesus unseren allzu Schlauen nicht entschlüpfen. Er macht ihm mit der Geschichte vom barmherzigen Samariter vielmehr klar, dass er selbst der „Nächste“ für den ist, der unter die Räuber gefallen war (Lukas 10,30–37). „Nächste“ für Menschen zu sein, die unserer Nähe bedürfen, ist darum zunächst die von Gott und Jesus gemeinte Art der Nächstenliebe.

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