Die Mutter der Menschlichkeit Gottes

Maria, die Mutter Jesu, hat viele Namen und Rollen, die sich im Laufe der Geschichte verändert haben. Heute hat sich der Blick auf sie verändert: Sie wird weniger demütig, eher als Revolutionärin gesehen.

Maria, wie der Maler Jean Poyer um das Jahr 1500 sie darstellt: gebildet, aufrecht, selbstbewusst – eine starke Frau.
Maria, wie der Maler Jean Poyer um das Jahr 1500 sie darstellt: gebildet, aufrecht, selbstbewusst – eine starke Frau.Foto: wikipedia.de

Für die einen ist sie die heilige Jungfrau, die Gottes Sohn zur Welt brachte. Andere vermuten in ihr schlicht eine junge Frau, die ein uneheliches Kind bekam. Und dann sind da noch die, die eine starke und mutige Kämpferin sehen, eine Rebellin, die den Umsturz aller weltlicher Macht herbeiwünschte und besang. Aber wer war sie wirklich?

Wenn man so will, gibt es zwei Marias: die historische Mutter des historischen Jesus – und die literarische Figur, die die Evangelisten aus ihr gemacht haben, und die dann über Jahrhunderte hinweg immer weiter ausgemalt wurde. Wie viel im Leben der historischen Mutter Jesu mit der Maria der Evangelien deckungsgleich ist, lässt sich heute nicht mehr ausmachen. Aber beide haben sie eine wichtige Rolle gespielt.

Geboren von einer Frau ohne Namen

Das, was über die Frau, die in den Evangelien den Namen Maria trägt, bekannt ist, lässt sich in wenigen Sätzen zusammenfassen. Die früheste Erwähnung findet sich bei Paulus im Galaterbrief, der lange vor den Evangelien geschrieben wurde. Er verweist auf sie nur an einer Stelle ganz pauschal, ohne Namensnennung: „Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau …“ (Galater 4,4).

Maria war also Mutter des Mannes, den seine Anhänger den Sohn Gottes nannten. Er zog als Wanderprediger durch Galiläa, scharte Menschen um sich, erzählte ihnen von Gott und dem nahen Himmelreich und starb dann am Kreuz.

Die Familiengeschichte: erst Distanz, dann Nähe

Es scheint im Leben der Mutter Phasen gegeben zu haben, in denen sie dem Auftreten ihres Sohnes kritisch gegenüberstand, wie wir aus den Erzählungen von den Predigten Jesu in der Synagoge Nazareth wissen (Markus 3,20-21 und 31-35) – die Tatsache, dass diese eher widerständige Geschichte von dem frühesten Evangelisten überliefert wurde, spricht für ihren historischen Kern. Bei den späteren Autoren Matthäus und Lukas wurde die Schärfe des Konflikts geglättet.

Eine Mariendarstellung von Donatello, Maria hält Jesus als Baby auf dem Arm

Die Familien-Geschichten zeigen außerdem, dass Maria weitere Kinder hatte. Der Evangelist Markus nennt vier Brüder mit Namen sowie Schwestern im Plural (Markus 6,1-6) – eine große Geschwisterschar von mindestens sieben. Von immerwährender Jungfräulichkeit kann also keine Rede sein, wenn man die Information des Markus nicht sehr stark umdeuten will.

Offenbar hat Maria später eine Wende in ihrer Haltung zu ihrem Sohn vollzogen und sich – wie auch Jesu Brüder – seiner Gemeinschaft angeschlossen. Lukas nennt sie in der Apostelgeschichte unter den Anhängerinnen und Anhängern Jesu, die auch nach seinem Tod zusammenblieben (Apostel­geschichte 1,14).

Die Verkündigung: voller Geheimnisse

Welche Rolle sie in der Jesusgemeinde gespielt hat, ist nicht bekannt. Ihr Sohn, der „Herrenbruder“ Jakobus, wird mehrmals als prominentes Mitglied der Gemeinschaft genannt; ob Maria ebenfalls eine gemeindeleitende Funktion innehatte, muss Spekulation bleiben.

Und dann gibt es da noch die Geburtsgeschichten bei Lukas und Matthäus, die tief in unserem kollektiven Gedächtnis sitzen und trotz aller historischen Forschung geheimnisvoll und unerklärlich bleiben. Da ist Maria, nicht älter als 15, 16 Jahre – nach heutigen Maßstäben eine Jugendliche mitten in der Pubertät, nach den Maßstäben ihrer Zeit aber eine erwachsene, heiratsfähige Frau. Sie ist schwanger, und das, obwohl sie noch nicht verheiratet ist. Wie es dazu kam, ist völlig ungewiss. Sex vor der Ehe, Vergewaltigung, gar Missbrauch? Oder ein Schöpfungsakt Gottes, der sich in dem Bild vom Schatten der Geisteskraft über ihr niederschlägt? Lukas berichtet von letzterem – wobei nicht ganz klar wird, ob damit der Auslöser der Schwangerschaft gemeint ist oder eine besondere Heiligung der schon bestehenden. Die Sache bleibt geheimnisvoll.

Einwilligung statt Überwältigung

Auf jeden Fall unterscheidet sich die Geschichte bei den Evangelisten von solchen, die es in der alt­orientalischen Umwelt von der Zeugung von Halbgöttern oder Helden gab: In diesen Fällen nämlich wird jeweils recht drastisch vom Akt der Zeugung durch einen Gott mit einer menschlichen Frau erzählt. Um ihre Zustimmung werden die Frauen dabei nicht gebeten – im Gegenteil.

Von Maria wird anderes berichtet: Hier wird die Verkündigung nicht als reine Überwältigungserfahrung dargestellt. So, wie Lukas die Szene komponiert, hat sie die Möglichkeit, nachzufragen und ihre Einwilligung zu geben. Eine Gottesbeziehung, die die menschliche Entscheidungsfreiheit mit einbezieht.

Das prägende Bild: demütig und keusch

Ob symbolische Rede oder nicht – unzweifelhaft ist, dass die Erzählung von der Verkündigung das Bild der demütigen, „unbefleckten“ Jungfrau geprägt hat, die gottergeben in ihr Schicksal einstimmt. Dieses Bild wurde Generationen von Frauen zum Vorbild, nicht wenige würden auch sagen, zum Verhängnis, über Jahrtausende hinweg: Maria, unerreichbar in ihrer Sündlosigkeit, aber nacheifernswert in ihrer Demut. Seid so, wie Maria, hieß die Botschaft: Ordnet euch Gott unter und seinen Stellvertretern auf Erden, den Männer. Die Auswirkungen, die dieses realitätsferne, unterdrückerische Ideal nach sich gezogen hat, sind bis heute in kirchlichen Strukturen und Hierarchien zu beobachten, angefangen bei der Ungleichheit der Geschlechter bis hin zu Missbrauch und Gewalt, körperlich wie seelisch.

Graffiti-Darstellung der Krippenszene mit Ochs, Maria, Josef und dem Esel

Dass viele Frauen ihr Leid im Gebet gerade der Frau klagten, die ihnen immer als Zerrbild ihrer eigenen Weiblichkeit vorgehalten wurde, spricht eine eigene Sprache: Offenbar erschien Maria trotz ihrer übermenschlichen Tugenden näher am echten Leben als die männlich empfundenen Personen der Trinität, Vater, Sohn und Heiliger Geist. Manche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sehen in ihr daher eine Platzhalterin für eine fehlende weibliche Seite Gottes. Der brasilianische Befreiungstheologe Leonardo Boff ging in den 1980er Jahren sogar so weit, Maria als Inkarnation des Heiligen Geistes zu sehen.

Lukas sieht Maria als Gestalterin

Das wiederum steht im Einklang mit der gestalterischen, geradezu revolutionären Rolle, die der Evangelist Lukas Maria zuschreibt. Nicht nur, dass sie die Aufgabe, die Gott für sie vorgesehen hat, aktiv annimmt, und damit auch Ja sagt zu den körperlichen und sozialen Risiken, die mit einer unehelichen Schwangerschaft und Geburt auf sie zukommen. Noch dazu zieht sie sich nicht keusch zurück, sondern macht sich in aller Öffentlichkeit auf den Weg zu ihrer Verwandten Elisabeth, der ebenfalls auf wunderbare Weise ein Sohn verheißen wurde.

Die beiden Frauen tauschen sich aus, teilen das jeweils Erlebte, und wie zur Bestätigung spürt Elisabeth die Bewegungen ihres Kindes, das später einmal Johannes der Täufer genannt wird. Und hier singt Maria ihren wunderbaren Lobgesang, das Magnificat: „Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilandes. Denn er hat große Dinge an mir getan…“

Das revolutionärste Adventslied

Dietrich Bonhoeffer schreibt dazu: „Dieses Lied der Maria ist das leidenschaftlichste, wildeste, ja man möchte fast sagen revolutionärste Adventslied, das je gesungen wurde. Es ist nicht die sanfte, zärtliche, verträumte Maria, wie wir sie auf Bildern sehen, sondern es ist die leidenschaftliche, hingerissene, stolze, begeisterte Maria, die hier spricht … ein hartes, starkes, unerbittliches Lied von stürzenden Thronen und gedemütigten Herren dieser Welt, von Gottes Gewalt und von der Menschen Ohnmacht.“

Maria als Rebellin, als Vorkämpferin für einen sozialen Umsturz, der das Untere nach oben kehrt? Eine Frau, die auf die Pauke der Weltrevolution Gottes haut, wie die Theologin Luise Schottroff einmal formuliert hat? Das ist wohl doch etwas viel verlangt von einer 15-jährigen unverhofft Schwangeren. Aber der Traum bleibt, und dafür steht ihr Name und ihr Schicksal: Gott greift ein. Gott verändert alles und macht alles gut. Gott wird Mensch und geht den Weg aller Menschen, von Anfang an. Diese verändernde Kraft, die in der Menschlichkeit Gottes steckt, sehen wir in Maria.