Die Leuenberger Konkordie: eine große Verheißung

Am 16. März 1973 verabschiedeten reformatorische Kirchen in Europa eine Erklärung, die alte theologische Streitigkeiten überwand und die volle Kirchengemeinschaft inklusive Abendmahl ermöglichte.

Gemeinsames Abendmahl, wie hier mit lutherischen und altkatholischen Gläubigen, ist keine Selbstverständlichkeit.
Gemeinsames Abendmahl, wie hier mit lutherischen und altkatholischen Gläubigen, ist keine Selbstverständlichkeit.epd-bild / Meike Böschemeyer

Im Evangelischen Gesangbuch findet sich unter dem Stichwort „Lehrzeugnisse der Kirche aus dem 20. Jahrhundert“ auch die Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa. Seit ihrer Verabschiedung auf dem Leuenberg in Basel sind 50 Jahre vergangen. Warum dieses Jubiläum feiern? Wer weiß noch um die Bedeutung jener Erklärung? Wie viele haben sie gelesen?

Als ich einst in einem Pfarrkonvent über die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre des Lutherischen Weltbunds und der Römisch-Katholischen Kirche (1999) berichtete, sagte mir ein Kollege, die Botschaft, dass Gott Menschen gerecht macht, sei nicht mehr zeitgemäß. Die Religionen/Konfessionen lebten doch in einer Harmonie, die der eines Orchesters vergleichbar sei. Freilich ist von dieser Harmonie nicht immer etwas zu spüren.

Rechtfertigung – ist das noch zeitgemäß?

Ist also die Rechtfertigungsbotschaft nicht mehr zeitgemäß? Obwohl sie doch auf dem Leuenberg als Punkt 1 der Verständigung zwischen den lutherischen, reformierten, unierten Kirchen, den Waldensern und den Böhmischen Brüdern behandelt wurde? In der Auseinandersetzung um die Erklärung betonten evangelische Theologinnen und Theologen unter Rückgriff auf Leuenberg, die Rechtfertigungslehre sei das zentrale Kriterium der Theologie.

Geht es uns inzwischen mit der Konkordie wie dem Kollegen einst mit der Rechtfertigungsbotschaft? Die inhaltliche Nähe zwischen den evangelischen Kirchen ist uns selbstverständlich geworden. Wer aber verstehen will, in welchen Einsichten diese Nähe gründet, muss sich um diesen Text bemühen. Die Konkordie ist es wert, intensiv gelesen zu werden. Denn sie bringt Dinge zur Sprache, die für den christlichen Glauben in seiner ökumenischen Weite wegweisend sind.

Abendmahlsstreit der Reformatoren führte zu Verwerfungen

Seit 1969 hatten Menschen um die Texte gerungen, die 1973 beschlossen wurden. Vergessen wir doch nicht, zu welchen Verwerfungen zwischen den Evangelischen der Abendmahlsstreit der Reformatoren geführt hatte! Noch der Lutheraner Paul Gerhardt hatte 100 Jahre später Probleme mit der Toleranz des reformierten Großen Kurfürsten gegenüber den aus Frankreich geflüchteten Hugenotten. Auch die durch Friedrich Wilhelm III. begründete Union der Evangelischen Kirche in Preußen zwischen Lutherischen und Reformierten führte zu Ärger.

1973 aber konnten Reformierter und Lutherischer Weltbund gemeinsam die „Übereinstimmung im Verständnis des Evangeliums“ feststellen, die „Kirchengemeinschaft“ und gemeinsame Lehrgespräche begründet. Volle Abendmahls- und Kanzelgemeinschaft, gegenseitige Anerkennung der Ordination, die Einsicht, dass traditionelle Lehrverwerfungen nicht mehr treffen – ist das nichts? Wir brauchen nur auf die kummervolle Debattenlage zwischen Evangelischen und Römisch-Katholischen zum Abendmahl schauen, um zu sehen, was Leuenberg leistet.

Ich erinnere an die zentralen Einsichten der Konkordie:

  • Die Kirche ist allein auf Christus begründet. Er ist die Mitte der Schrift.
  • Das Evangelium/Christusgeschehen wird in der Rechtfertigungslehre zur Sprache gebracht.
  • Diese beiden Grundsätze sind „Maßstab aller Verkündigung der Kirche“.
  • Für die Einheit der Kirche ist die „Übereinstimmung in der rechten Lehre des Evangeliums und in der rechten Verwaltung der Sakramente notwendig und ausreichend (vgl. Augsburger Bekenntnis VII)“.
  • Das Abendmahl und die Taufe sind nicht vom lebendigen Geschehen der Gegenwart Christi im Heiligen Geist zu trennen.
  • Einseitigkeiten in den verschiedenen Lehransätzen des 16. Jahrhunderts zum Verständnis der Person Jesu Christi werden so überwunden.
  • Leuenberg kritisiert die Vorstellung von einem ewigen Ratschluss Gottes zur Verwerfung gewisser Personen oder eines Volkes.

Diese Erkenntnisse zeigen ökumenische Perspektiven auf, an denen wir nicht vorbeigehen können. Das zeigt etwa auch die hilfreiche Unterscheidung zwischen dem Grund der Kirche (Gottes Handeln), ihrer Gestalt und ihrer Bestimmung (ihrem Auftrag), wie sie in der Leuenberger Schrift „Die Kirche Jesu Christi“ (1994) eingeschärft wird.

Verheißungsvolles ökumenisches Unternehmen

Manches im ökumenischen Diskurs scheitert daran, dass diese drei Aspekte nicht hinreichend unterschieden werden. Ich muss sagen, dass ich den Leuenbergprozess und die daraus entstandene Gemeinschaft evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) für das verheißungsvollste ökumenische Unternehmen halte, das ich kenne. Leuenberg hat seine Attraktivität für die methodistischen, baptistischen und anglikanischen Geschwister bewiesen. Allerdings gibt es da eine gewisse deutsche Dominanz, über die nachgedacht werden sollte.

Und Leuenberg braucht mehr als Lehrgespräche. Aber mit nun 95 Mitgliedskirchen ist es eine starke ökumenische Kraft über Europa hinaus, die niemand ignorieren kann. Die Konkordie verdient es, gelesen – und verstanden zu werden.

Christof Theilemann ist Ökumenebeauftragter der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und Direktor des Berliner Missionswerks.