Die Berlinale zeigt: Mit guten Absichten alleine lässt sich die Welt nicht ändern. Die Wahrheit ist komplexer als das Bild, das wir uns von ihr machen – auch wenn es um Familie geht.
Hat die Familie eine Überlebenschance? Ist das Zusammenleben von Eltern und Kindern noch ein Modell mit Zukunft? Die Filme der 75. Berlinale geben detaillierte Auskunft zum Status quo der “Keimzelle des Staates”. Sie zeigen die Familie als den Ort, an dem sich die Entscheidung zwischen Freiheit und Pflicht immer wieder neu stellt.
“Wir sind eine typische dysfunktionale Familie, wo jeder sein eigenes Süppchen kocht und keiner sich um den anderen kümmert.” Wenn die 17-jährige Greta Engels in Tom Tykwers Eröffnungsfilm “Das Licht” mit ihren Eltern ins Gericht geht, tut sich der Riss zwischen den Generationen auf. Aufwendig, sorgfältig und detailliert erzählt der Film von den Versuchen, das gerissene Band zwischen Jung und Alt neu zu knüpfen.
Dabei kommen alle Themen auf den Tisch, von denen sich die Engels betroffen fühlen: Klimawandel, Migration, (Post-)Kolonialismus, Computersucht, entfremdete Beziehungen. “Ich wollte einen verrückten, schönen Film machen”, sagt Tom Tykwer über die Arbeit an “Das Licht”. Das ist ihm weitgehend gelungen; leider geht die bürgerliche Familiengeschichte, die er erzählt, unter der Last ihrer politisch korrekten Botschaften in die Knie.
Dass die Wirklichkeit komplexer ist, zeigen schon zur Halbzeit der Berlinale zahlreiche Filme. Der chinesische Wettbewerbsbeitrag “Sheng Xi Zhi Di” (“Das Land leben”) gehört zu den historisch und ästhetisch genauesten Filmen des Festivals. In 132 Minuten entfaltet Autor und Regisseur Huo Meng das Panorama einer Zeit des Umbruchs in der chinesischen Provinz Henan. Die ruhige Kamera (Guo Daming) zeigt die Charaktere als gesellschaftlich geprägte Individuen in einer Periode des Umbruchs: 1991 bestehen noch die bäuerlich geprägten Strukturen dörflicher Gemeinschaft und großfamiliären Zusammenhalts. Das Leben orientiert sich an den Jahreszeiten, am Wetter, an traditionellen Überlieferungen und Bräuchen.
Anhand der Geschichte des zehnjährigen Chuang (Wang Shang) erfahren wir, welche Zumutungen die neue Zeit für die Menschen auf dem Lande mit sich bringt: Äcker werden zu Ölfeldern, Bauern ziehen in die urbanen Zentren, die Landflucht zerreißt die Familien. Lakonisch und unaufgeregt wird gezeigt, wie sehr die veränderten politisch-ökonomischen Bedingungen das Schicksal der Einzelnen und ihrer Familien transformieren. Zhang Yanrong, die Chuangs Urgroßmutter spielt, ist auf dem Festival bislang die stärkste Schauspielerin in einer Nebenrolle.
Mit einer negativen Utopie im Gewand der Gegenwart setzt die brasilianisch-mexikanisch-niederländisch-chilenische Koproduktion “O Ultimo Azul” (Das letzte Blau) ein unübersehbares Zeichen: In einer Zeit, in der die industrielle Verwertbarkeit der menschlichen Arbeit das Maß aller Dinge ist, haben Alte keinen Platz mehr. Deshalb werden sie in eine spezielle Kolonie übergesiedelt, aus der es kein Zurück mehr gibt.
Das Traurigste daran ist, dass die Familie als Institution diesen Entwicklungen nichts entgegensetzen kann. Mit ihren 77 Jahren soll auch Tereza (Denise Weinberg) diesen Weg gehen. Doch die entschlossene Frau entkommt. Ein abenteuerlicher, von Regisseur Gabriel Mascaro spannend erzählter Kampf um die Freiheit beginnt. Dass diese Freiheit zugleich den Abschied von der Familie bedeutet, macht den tragischen Hintergrund dieses kleinen, poetischen Films aus.
Den bisher dichtesten, intensivsten Blick auf die Widersprüche des Systems Familie wirft Regisseur und Autor Frédéric Hambalek mit seinem “Was Marielle weiß”. In dem deutschen Wettbewerbsbeitrag ist alles beisammen, was eine Familie im klassischen Sinne ausmacht: Mutter, Vater, Kind, die Keimzelle des Glücks und des Unglücks zugleich. Den Glanz ihres bürgerlichen Erfolgs bezahlen Julia (Julia Jentsch) und Tobias (Felix Kramer) mit einer Ehe, die nur der Schein zusammenhält. Entfremdung quillt aus jeder Fuge des überdesignten Eigenheims, man lügt sich und anderen etwas vor, bis alles anders wird: Plötzlich entwickelt Tochter Marielle (Laeni Geiseler) telepathische Fähigkeiten. Sie sieht und hört, was die Eltern tun. Alles. Damit stellt sie die Machtverhältnisse auf den Kopf.
Immer neu versuchen Vater und Mutter, dem Wissen der Tochter zu entkommen. Das schafft dramatische Konflikte, die zugleich sehr komisch sind. Sie legen den Kummer frei, der am Grund dieser dysfunktionalen Familie liegt: Trauer über die eigene Schwäche, Wut auf den anderen, Angst, den hohen Ansprüchen nicht zu genügen, Langeweile. Dann beschließt Marielle zu handeln. Was sie damit in Gang setzt, zeigt, worum es in dieser Familie und diesem Film geht: Verantwortung. In den Filmen der Berlinale ist das nur ein anderes Wort für Glück.