Die Bibel lesen

Woche vom 6. bis 12. Oktober

Sonntag:    Psalm 104
Montag:     Matthäus 21, 12-17
Dienstag:     Matthäus 21, 18-22
Mittwoch:     Matthäus 21, 23-27
Donnerstag:     Matthäus 21, 28-32
Freitag:     Matthäus 21, 33-46
Samstag:     Matthäus 22, 1-14

Jesus zieht in Jerusalem ein. Am Anfang steht eine Frage: Wer ist der? Die Frage richtet sich sowohl an die Figuren im Text als auch an die Leserinnen und Leser: Wer ist dieser Jesus? Wer ist er für uns? Was erwarten wir von ihm? Das Matthäusevangelium stellt diese Fragen immer wieder: im Zusammenhang mit Jesu Geburt (Matthäus 1-2), bei seiner Taufe (Matthäus 3), bei seiner Erprobung in der Wüste (Matthäus 4,1-11), durch den gefangenen Johannes den Täufer (Matthäus 11,2-6), im Kreis seiner Schüler (Matthäus16,13-20), bei der Verklärung auf dem Berg (Matthäus 17,1-9), durch die Hohenpriester und Ältesten (Matthäus 21,23-27), im Zuge seiner Gefangennahme, seines Prozesses und seiner Hinrichtung (Matthäus 26,47-27,54) und bei seiner Auferweckung (Matthäus 28).

Wer ist dieser Jesus, der in Jerusalem einzieht? Ein König aus dem Herrschergeschlecht Davids, wie ihn die Menge erwartet? Die unmittelbare Antwort in dieser Szene kommt der Rolle Jesu in den folgenden Szenen am nächsten: Jesus ist ein Prophet. Wahrhaft ein Prophet – wie Mose, Elia oder Samuel! Den Auftakt seines Wirkens bildet eine Zeichenhandlung – in einer ebenso gewaltsamen wie provozierenden Aktion verweist Jesus auf die wichtigste Funktion des Tempels: Der Tempel soll eine Stätte der Gottesbegegnung sein (Matthäus 21,12-17). Das liebe Jesulein hätte so etwas wohl nicht getan. Der Jesus des Matthäusevangeliums tut es!

Als nächstes wirkt Jesus ein Strafwunder an einem Feigenbaum, den er aufgrund mangelnder Erträge zeichenhaft verdorren lässt (Matthäus 21,18-22). Die Frage nach Jesu Vollmacht durch die Hohenpriester und Ältesten in Matthäus 21,23-27 erscheint vor dem Hintergrund dieses Auftretens mehr als berechtigt – und dennoch bleibt die Machtfrage für die Fragenden unbeantwortet. Es folgen nun nicht etwa deeskalierende Worte und Taten, sondern drei kritische und provokante Gleichnisreden. Diese Reden führen die Fragen vom Anfang weiter und spielen sie ins Feld der Fragenden zurück: Wer von euch ist bereit den Willen Gottes zu tun? (Matthäus 21,28-32) Wie verhaltet ihr euch gegenüber den Boten Gottes? (Matthäus 21,33-46) Seid ihr offen für das Fest der göttlichen Nähe? (Matthäus 22,1-14)

Die Mächtigen in Jerusalem reagieren mit Unverständnis und wachsender Gewaltbereitschaft auf diese prophetische Infragestellung ihrer Position. Letzten Endes wollen sie die Frage nicht beantworten, wer dieser Jesus ist. Die Leserinnen und Leser des Matthäusevangeliums wissen längst um die Antwort: Er ist der Immanuel, der Gott mit uns; der Sohn Gottes, der verheißene Messias, ein mächtiger Prophet. Wer fragen muss, wird es nie wissen. Und wer es weiß, dem genügt die Frage.

Dr. Michael Rydryck ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Neues Testament und Geschichte der Alten Kirche an der Universität Frankfurt a.M.