Die bedenklichen ADHS-Selbstdiagnosen auf TikTok

Seit Monaten kursieren auf TikTok unter dem Hashtag #adhs Videos, in denen Nutzer ADHS-Symptome erklären. Wieso Ärzte darauf mit Sorge reagieren.

Videos unter dem Hashtag #adhs haben über 400 Millionen Aufrufe auf TikTok
Videos unter dem Hashtag #adhs haben über 400 Millionen Aufrufe auf TikTokImago / Daniel Scharinger

„So erkennst du ADHS in 10 Sekunden“, titelt ein junger Mann auf TikTok, der nach eigenen Angaben Medizin im vierten Semester studiert. Als Anzeichen für die Erkrankung nennt er Aufmerksamkeitsprobleme, Hyperaktivität und Impulsivität. Eine andere Nutzerin zeigt sich auf der Social-Media-Plattform mit einem Video, das den Titel „Anzeichen von ADHS“ trägt. Darin stellt sie verschiedene Probleme dar, wie etwa Schwierigkeiten, Sachen zu Ende zu bringen oder Entscheidungen zu treffen sowie das Abschweifen von Gedanken.

Das sind nur zwei von vielen Videos auf TikTok, die derzeit zum Thema ADHS kursieren. ADHS ist die gängige Abkürzung für Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätsstörung. Laut Robert-Koch-Institut (RKI) sind bundesweit etwa vier Millionen Menschen davon betroffen. Sie tritt meistens im Kindesalter auf.

Die selbst produzierten Videos auf der Plattform treffen einen Nerv. Allein der Hashtag #adhs hat über 430 Millionen Aufrufe. Die Kommentarspalten sind voll von Nutzern, die angeben, die Anzeichen auch bei sich zu erkennen. Dabei sind die Symptome sehr allgemein gehalten: Unordnung, Vergesslichkeit, Impulseinkäufe, das Horten von Sachen.

ADHS-Symptome, die keine sind

Der Wahrheitsgehalt der TikTok-Videos ist fraglich. Eine kanadische Studie hat herausgefunden, dass rund die Hälfte der Videos zu ADHS Fehlinformationen enthalte. So würden Symptome genannt, die der Erkrankung nicht zuzurechnen seien. Die „ADHS-Paralyse“ etwa, also das Gefühl, unfähig zu sein, etwas zu tun und sich wie gelähmt zu fühlen, sei kein ADHS-Symptom, heißt es in der wissenschaftlichen Analyse.

Ein weiteres Problem: Der Algorithmus erkennt durch Likes, Kommentare und Verweildauer, welche Inhalte einem Nutzer gefallen. Als Folge werden ihm immer weitere Videos zu diesem Thema angezeigt. Manche wollen diesen Mechanismus für sich nutzen. So versuchen einzelne Nutzer, Coachingstunden oder gar Tropfen zu verkaufen, die ADHS-Symptome lindern sollen. Eine Gefahr für junge, leicht beeinflussbare Menschen?

@freud.los ADHS kann natürlich noch viele weitere Anzeichen haben! #adhd #mentalegesundheit #therapie #lernenmittiktok ♬ Chabos wissen, wer der Babo ist – Swing / Jazz Version – Marti Fischer

Ein Sprecher der deutschen Geschäftsstelle des chinesischen Unternehmens TikTok in Berlin teilte dem Evangelischen Pressedienst (epd) mit: „Wir sind stolz darauf, dass TikTok zu einem Ort geworden ist, an dem Menschen ihre persönlichen Erfahrungen mit Neurodiversität teilen können. Wir arbeiten hart daran, unsere Plattform zu einem sicheren Ort für diese wichtigen Gespräche zu machen.“ TikTok betont, dass jeder, der Rat zu neurologischen Erkrankungen sucht, sich an einen Arzt wenden solle.

Eike Christoph Ahlers, Chefarzt der Psychiatrischen Klinik des Johanniter Krankenhauses Treuenbrietzen in Brandenburg, beschäftigt sich seit Jahren mit ADHS im Erwachsenenalter. Der Facharzt bewertet das gestiegene Bewusstsein für psychische Erkrankungen in den sozialen Medien zunächst als positiv. „Die Hoffnung besteht, dass es weniger stigmatisiert wird, über eine ADHS als mögliche Ursache von Beschwerden nachzudenken“, sagt er.

Mehr als nur Hyperaktivität

Voreilige Selbstdiagnosen hingegen hält er für bedenklich. „Ein unreflektierter Gebrauch von psychologisch-medizinischen Diagnosen und Begriffen, um selbst Aufmerksamkeit zu generieren, ist problematisch“, warnt Ahlers. Es bestehe die Gefahr, dass Unsicherheit verstärkt und tatsächliche Beschwerden von Betroffenen verharmlost würden.

Dass ADHS-Erkrankungen oft erst im Erwachsenenalter erkannt werden, hat für Ahlers eine klare Ursache: „Das Hauptsymptom, das im Kindesalter meistens zu einem ADHS-Test führt, ist die Hyperaktivität.“ Bei vielen Betroffenen zeige sich ADHS im Kindesalter jedoch eher über Konzentrationsprobleme. Diese führten generell aber viel seltener zu einer Abklärung durch einen Arzt.

ADHS sei gut behandelbar, macht Ahlers klar: „Bei deutlicher Symptomatik können Medikamente eingesetzt werden“. Auch Verhaltenstherapien sowie Bewegung, Sport und Entspannungsübungen könnten hilfreich sein.