Die andere Wirklichkeit
Über die tiefe Wirklichkeit hinter all dem, was zu hören und zu sehen ist, schreibt Ulrich Möbius. Er ist Prädikant in Greifswald.
Der Predigttext des folgenden Sonntags lautet: „Aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge hast du dir Lob bereitet.“ aus Matthäus 21, 14-17
Ostern bin ich mit der Bahn verreist. Vielleicht lag es an dem bevorstehenden Fest, dass ich offener war für ein anderes Sehen und Verstehen. Da saß ein junger Mann im Abteil, von dem immer wieder unartikulierte Laute zu hören waren. Das war eine Vielfalt an Lauten und Klängen, wie ich sie lange nicht von einem Menschen vernommen habe. Für ihn hatten sie eine Bedeutung, die mir verschlossen war. Ich war erstaunt und ergriffen. Ein Mensch, der sich einfach zu Gehör bringt: Ich bin hier. Ich lebe. Ich fühle etwas und muss es ausdrücken, es kommt einfach so aus mir heraus.
Der junge Mann hat mir in diesem Moment die Sinne geöffnet für eine Wirklichkeit, die ich nicht bis ins Letzte verstehen kann und muss. Die ich erfahre und der ich mich anvertrauen kann.
Den Satz von den Unmündigen und Säuglingen hat der Schreiber des Matthäusevangeliums aus Psalm 8 übernommen. Er fand ihn so wichtig und zutreffend, dass er ihn unbedingt in Erinnerung rufen wollte. Weil er zu der Erfahrung passt, die auch Jesus macht. Ausgerechnet Menschen, die sehr von ihren Einsichten überzeugt sind, tun sich schwer mit seinen Worten und Taten. Sie sind so in sich selbst gefangen, dass sie nicht merken, worauf Jesus eigentlich hinweisen möchte: die viel umfassendere, tiefere Wirklichkeit hinter all dem, was zu hören und zu sehen ist. Menschen in seiner Nähe staunen, wundern sich, stellen Fragen oder entrüsten sich. Aber nur wenige sehen weiter – und finden ins Lob. Dann ahnen sie, dass Jesus Vorbote, Botschafter dieser umfassenderen Wirklichkeit ist. Von ihr können wir auch erfahren. Die Überlieferungen von Jesus machen uns achtsam dafür.
In bestimmten Momenten spüren wir, dass etwas über unseren Alltag, unser Miteinander und über uns selbst hinausweist. Wir können unsere Vorurteile überwinden und neue Erfahrungen zulassen. Manchmal bekommen wir dafür ganz unerwartet Hilfe. So wie ich im Zugabteil durch den jungen Mann. Er wurde mir zu einem Gleichnis; so wie ein Gleichnis aus dem Mund von Jesus.
Unser Autor
Ulrich Möbius ist Prädikant in Greifswald.
Zum Predigttext des folgenden Sonntags schreiben an dieser Stelle wechselnde Autoren. Einen neuen Text veröffentlichen wir jeden Mittwoch.