Jubiläums-Biennale in Venedig findet in schwierigen Zeiten statt

“Alle Menschen sind Ausländer – fast überall”: eine schlichte Erkenntnis, die gegen nationalistische Überheblichkeit hilft. Deshalb hat sie die Kunst-Biennale in Venedig in diesem Jahr zu ihrem Motto gemacht.

Die 60. Biennale in Venedig war noch nicht einmal eröffnet, da wurde sie schon von den Kriegen in Osteuropa und Nahost überschattet: Erneut will Russland seinen Länderpavillon bei der größten und ältesten Kunstausstellung der Welt nicht bespielen – genau wie Israel, wenngleich aus anderen Gründen. Russland zeigte der Biennale schon 2022, nach seinem Überfall auf die Ukraine, die kalte Schulter. Nun überlässt es sein Gebäude überraschend Bolivien, wohl im Gegenzug für eine lukrative Lithium-Lieferung.

Dagegen entschied die israelische Künstlerin Ruth Patir vorige Woche, den Ausstellungspavillon erst dann zu öffnen, wenn im Gaza-Krieg ein Waffenstillstand und die Befreiung der Geiseln in Sicht ist. Doch was laut Patir als Protest für den Frieden gedacht war, provozierte wiederum Protest: Vor dem Pavillon kam es zu pro-palästinensischen Demonstrationen mit dem Vorwurf des Völkermords gegen Israel und des billigen Opportunismus gegen die Künstlerin.

Es ist nicht das erste Mal, dass “La Biennale di Venezia” in ihren 129 Jahren Kontroversen erlebt. Dennoch hat sie sich seit 1895 zu einer der prestigeträchtigsten kulturellen Institutionen der Welt entwickelt. Die erste Leistungsschau zeitgenössischer Kunst sahen bereits rund 220.000 Besucher, bei der 59. Biennale 2022 waren es mehr als 800.000. Bald nach Gründung der Ausstellung wählte man den Zweijahresrhythmus (“Biennale”). Ab den 30ern kamen die Sparten Musik, Kino und Theater, ab 1999 Tanz hinzu. 1980 hatte die erste Internationale Architektur-Biennale Premiere.

In diesem Jahr bespielen knapp 90 Nationen die historischen Pavillons in den Giardini, Venedigs größtem öffentlichen Park. Hinzu kommen Ausstellungen in der früheren Schiffswerft “Arsenale” und im Stadtzentrum. Die afrikanischen Länder Benin, Äthiopien, Tansania und das asiatische Osttimor sind erstmals dabei.

Das passt zum diesjährigen Fokus auf den Globalen Süden, den der künstlerische Direktor der 60. Biennale, der Brasilianer Adriano Pedrosa, gewählt hat. Unter dem Motto “Stranieri Ovunque – Foreigners Everywhere” (“Überall Fremde”) will er ein Fanal gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung aller Art setzen, knapp übersetzt mit der schlichten Erkenntnis: “Alle Menschen sind Ausländer – fast überall”.

Dazu werden Werke von gut 330 Künstlern und Kollektiven gezeigt, die im europäischen Kunst- und Ausstellungsbetrieb bisher unterrepräsentiert sind. Das gilt auch für die Leitung der Biennale: Pedrosa ist der erste Kurator aus der südlichen Hemisphäre. Das Motto “Stranieri Ovunque” geht auf eine Werkserie des Kollektivs Claire Fontaine zurück: Neonskulpturen, die den Slogan in mehr als 50 Sprachen zeigen.

Mit einem der ungewöhnlichsten Ausstellungsbeiträge interpretiert der Vatikan das Motto mit Blick auf Menschen, die mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind: Für die Präsentation wählten der Leiter der vatikanischen Kulturbehörde, Kardinal Jose Tolentino de Mendonca, und sein Team das Frauengefängnis auf der Insel Giudecca. Durch die Ausstellung “Mit meinen Augen”, kuratiert von Chiara Parisi und Bruno Racine, werden Gäste von Inhaftierten geführt; sie führen auch Papst Franziskus, der am Sonntag (28. April) erwartet wird – eine Premiere in der Biennale-Geschichte.

Für den deutschen Pavillon, einen monumentalen Säulenbau in den Giardini, zeichnen in diesem Jahr die in Berlin lebende israelische Medienkünstlerin Yael Bartana und Ersan Mondtag, deutscher Theaterregisseur mit türkischen Wurzeln, verantwortlich. Bleibt abzuwarten, ob ihre Kunst ähnlich legendär wird wie die “Kirche der Angst”, die Christoph Schlingensief auf der Biennale 2003 erstehen ließ, oder die “Straßenbahnhaltestelle”, die Joseph Beuys 1976 im deutschen Pavillon inszenierte.

Fußnote der Geschichte: 1940 durfte Arno Breker, einer der Lieblingskünstler der Nazis, Deutschland dort vertreten. Es gehört zu den historischen Untiefen der Biennale, dass Diktatoren wie Hitler, Mussolini oder Franco sie für die eigene Propaganda missbrauchten.

Auch die 60. Biennale findet in schwierigen Zeiten statt. In vielen Ländern drängen Populisten und Extremisten an die Macht. Krieg ist auch in Europa kein Fremdwort mehr. Fluchtbewegungen als Folge sozialer Ungleichheit und des Klimawandels nehmen zu, gerade in den Ländern des Südens. Dass sie im Zentrum der Jubiläums-Biennale stehen, wurde schon zur Eröffnung deutlich: Der begehrte Goldene Löwe ging an indigene Künstler – noch eine Premiere.