Es ist ein Ratespiel, es geht um Identität und es geht um Glauben. Großformatige Porträts von 20 Frauen hängen in einem überdimensionalen Kokon. Alle tragen das gleiche helle Gewand, keinen Schmuck, nichts lenkt ab. Es ist die Religion, die die Frauen unterscheidet. Das wird deutlich anhand der Texte, die abseits im Pavillon Auskunft zu den Frauen und ihrem Glauben und also zu ihrem Leben geben. Es gibt keine Zuordnung von Text und Bild. Der Betrachter kann nur ahnen.
„Der Weiße Faden“ ist der Name des Kunstprojekts der Fotografin Elena Kaufmann und der Journalistin Antje-Maria Lochthofen, das 2021 erstmals für einige Monate Neugierige anlockte und einlud, den Kokon zu betreten, der wie ein Ufo auf dem Platz vor dem Erfurter Hauptbahnhof gelandet schien. Zu diesem Zeitpunkt hatte Kaufmann in ganz Deutschland 20 Frauen der unterschiedlichsten Glaubensvorstellungen gefunden. In Erfurt begannen dann die Arbeiten. Jede Einzelne fotografierte sie unter exakt identischen Bedingungen, und am Ende hat sie auch noch am Ausstellungskokon mitgebaut, in dem sie die Porträts zeigte.
Toleranz im Fokus
Es geht ihr um Toleranz. Es geht ihr darum, den unvoreingenommenen Blick erneut zu erlernen: „Ich bin Ausländerin, habe in St. Petersburg studiert, aber man sieht es mir nicht an. Doch sobald ich den Mund aufmache, hört man den Akzent. Dann kommt sofort die Frage, woher ich komme.“ Nicht mehr die Person, sondern die Herkunft stehe dann im Mittelpunkt des Interesses. „Und natürlich sind Menschen, die anders aussehen und eine andere Religion leben, noch viel öfter mit solchen Frage konfrontiert.“ An der Muslimin etwa werde dann nur noch das Kopftuch gesehen. „Oft bleiben wir bei der Wahrnehmung unseres Gegenübers auf der Oberfläche, kleben nur ein Etikett auf diesen Menschen“, sagt sie. Ihre Fotos dagegen zeigen die Frauen. Manche lächeln, andere schauen ernst in die Kamera. Keiner Frau ist ihre Religion anzusehen.
Über ihre Biografie und ihre Religiosität erzählen die sehr persönlichen Texte von Antje-Maria Lochthofen. Es sind Texte etwa über Zurückweisungen einer Pfarrerstochter durch vermeintliche Freunde in DDR-Zeiten oder eine Frau, die im Daoismus ein entschleunigtes, besseres Leben lernt. Buddhistinnen, Sunnitinnen, eine Atheistin kommen zu Wort. Aber die Texte stehen für sich. Der Betrachter mache sich sein Bild.
Aus dem “säkularen Osten”
Alle Versuche, die Texte den Personen zuzuordnen, würden irgendwann in der Erkenntnis eingestellt, dass dies schwerlich möglich sei, sagt Lochthofen. Erfahrungen, Glauben und Geschichte seien einem Menschen nicht anzusehen. Aber wenn man seine Geschichte kennt, sei Gemeinschaft zu spüren. „Und vielleicht ist es ja interessant, das Projekt kommt ausgerechnet aus dem, wie es heißt, säkularen Osten“, sagt sie. „Fremdenfeindlichkeit, Intoleranz machen Menschen kaputt. Unser Projekt will etwas dagegen tun. Wer sich Zeit nimmt, wird staunen, wie ähnlich, wie nah wir uns sind. Es ist ein Angebot, sich auf den Menschen einzulassen.“
Es ist ein Angebot, das nun nach Koblenz umzieht, wo „Der Weiße Faden“ bis 30. Juli zu sehen sein soll. Anschließend wird die Ausstellung in das Kloster Riddagshausen bei Braunschweig umziehen. Noch mehr Ausstellungsorte sind geplant – es laufen Verhandlungen.
Sozial schwierige Gegend
Ob das Publikum in den westdeutschen Ländern anders reagiert als die Erfurter und ihre Reisenden auf dem Bahnhofsvorplatz, sei eine spannende Frage, sagt Elena Kaufmann. Das Projekt sei in Erfurt vor zwei Jahren sehr positiv aufgenommen worden, vor allem von den jugendlichen Besuchern. „Das sind die ehrlichsten Kritiker“, sagt sie. Die Teenager zeigten Begeisterung und Ablehnung unverstellt.
Die Gegend um den Erfurter Hauptbahnhof gilt als sozial schwierig. Doch der Kokon, Tag und Nacht für jeden zugänglich, blieb die meiste Zeit unbewacht. Gelobt wurde vor allem auch die friedliche Stille im Inneren des großen weißen Raums. Und nur eine einzige Beschädigung an dem Kunstwerk gab es in Erfurt. „Jemand hat ein Stückchen Stoff aus dem Pavillon herausgeschnitten. Wie bei Christos verpacktem Reichstag“, sagte Elena Kaufmann: „Das hat mich ein wenig stolz gemacht.“
