Der verlorene Kelch

Dass Ausborgen Sorgen bringt, erfuhren die Katzower 1935, nachdem sie ihren wertvollen Abendmahlskelch an eine Ausstellung verliehen.

Das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste ist der zentrale Ansprechpartner zu Fragen unrechtmäßiger Entziehungen von Kulturgut.
Das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste ist der zentrale Ansprechpartner zu Fragen unrechtmäßiger Entziehungen von Kulturgut.epd/Christine Senkbeil

eKatzow. Um 281 Gramm Silber, vergoldet, dreht sich die Suchmeldung mit der laufenden Nummer 589486. Kunstvoll gestaltetes Edelmetall aus der Kirche im vorpommerschen Katzow bei Wolgast. Gesucht wird international, seit dem 22. Juni 2020, und zwar vom Deutschen Zentrum für Kulturverluste.

Die nüchterne Auflistung auf dem Datenblatt in der sogenannten „Lost-Art“-Liste beschreibt einen aufwendig gestalteten Abendmahlskelch, der der Kirchengemeinde schon vor dem Zweiten Weltkrieg verloren ging. „Es ist der sogenannten Philippskelch, benannt nach dem pommerschen Herzog Philipp Julius“, erklärt der Katzower Pastor Jim Brendel.

Ein wertvolles Stück

1475 bis 1500 gibt die Datenbank als Entstehungszeitraum an. Mit eigenen Augen hat Jim Brendel den Kelch nie gesehen, auch wenn er immerhin seit fast drei Jahrzehnten das Pfarramt in dem Dorf bei Wolgast als Pastor betreut. „Sein Abhandenkommen war ein großer Verlust für unsere Kirchengemeinde“, sagt er über das inzwischen 85 Jahre zurückliegende Ereignis. Und als das Landeskirchenamt in Kiel vor zwei Monaten den Vorschlag machte, den Kelch im Deutschen Zentrum für Kulturverluste listen zu lassen, da stimmte der Kirchengemeinderat zu.

Veranlasst hatte diese Initiative ein Mann, der den Kelch ebenfalls nie sah, sich aber intensiv mit ihm befasste: Brendels Vorgänger Norbert Rauer, Katzower Pastor von 1976 bis 1991. „Das Pfarrarchiv ist wirklich gut geführt“, erinnert er sich. Dort fand er einiges über das verlorene Abendmahlsgefäß heraus. Der gekreuzigte Christus soll auf dem vergoldeten Kelch zu sehen sein. Sein Blut wird von zwei Engeln aufgefangen. Und natürlich das Wappen von Phi­lipp Julius, Herzog von Pommern-Wolgast. Er war Patron der Katzower Kirche und schenkte der Gemeinde den Kelch.

Nachforschungen verliefen ins Leere

Rauer, der inzwischen Mitte 70 ist und in Potsdam lebt, stellte damals umfangreiche Nachforschungen über den Verbleib des so von ihm benannten „Philippskelches“ an. In den „Baltischen Studien“ veröffentlichte er 1987 eine ganze Dokumentation seiner Recherchen.
Sein Amtsvorgänger Pastor Völger nämlich war es, der Kontakte zu großen wissenschaftlichen Einrichtungen pflegte und den Kelch verlieh. „Und zwar im Oktober 1935 an das Pommersche Landesmuseum in Stettin“, sagt Rauer.

In der damaligen pommerschen Landeshauptstadt sollte es eine große Ausstellung geben: ‚Kunstpflege in Pommern zum Gedächtnis an das 1637 erloschene Greifengeschlecht‘. Und neben dem Krumminer Kelch sollte auch der Katzower dabei sein. Im Juli 1937 sollte diese Herzogsgedächtnisausstellung stattfinden. „Der zugehörige Leihschein liegt noch im Katzower Pfarrarchiv“, sagt Rauer. Kunstwerke der Greifenzeit waren ausgestellt: der Croyteppich, der Rügenwalder Silberaltar. Ob der Philippskelch dabei war? „Das ist offen“, sagt Rauer. Im Ausstellungskatalog fand er später nur den Krumminer Kelch. „Der war wahrscheinlich die Nummer 1!“

Fakt ist: Der Kelch kam nicht zurück

Nach dem Krieg, 1949, bestätigte ein Bezirkskonservator, der Kelch gehöre nicht zu den aus Stettin sichergestellten Gegenständen. Er sei auch weder ins Muzeum Narodowe in Szczecin, noch in die Stiftung Pommern in Kiel, noch auf die Veste Coburg ausgelagert worden, erfuhr Rauer 1981 auf Anfrage. „Verbleib unbekannt“ ist nun der Status des Kelches in der Suchmeldung. Ist er in Russland? In Polen? Wurde er eingeschmolzen? Steht er verstaubt im Keller eines Antiquitätenhändlers?

„Bei uns ist er jetzt jedenfalls erst einmal als gesuchtes Objekt registriert und damit haben wir Transparenz hergestellt“, sagt Josefine Hannig vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste in Magdeburg. Bestenfalls, sagt sie, fände man so denjenigen, der das Objekt gefunden hat: Ob nun im Museum, im Kunsthandel oder im Privatbesitz. „Suchende und Findende zusammenbringen“, das sei die Devise der Institution.

Denn alle musealen Einrichtungen sind aufgerufen, ihre Bestände zu untersuchen, um NSRaub- oder Beutegut ausfindig zu machen. Raubgut, erklärt sie, seien Kunstgegenstände, die jüdischen Besitzern von den Nationalsozialisten entwendet wurden. Und bei sogenanntem Beutegut handele es sich um Kriegsverluste. Der Kelch ist hier einzuordnen. Wenn nun ein Museum ein solches Objekt im Bestand hat und es ebenfalls meldet, dann können Experten Vergleiche anstellen und herausfinden, ob es sich um den Katzower Kelch handelt. Auch Kunsthändler erkundigen sich in der Datenbank, ob der zu versteigernde oder zu verkaufende Gegenstand gesucht wird. „Jedenfalls im Idealfall“, sagt Hannich. „Wir erleben leider auch den anderen Fall. Aber eigentlich ist dies heute moralischer Kodex.“
Hoffnung für die Katzower besteht also. „Wir würden den Kelch wieder seiner Bestimmung zuführen“, sagt Pastor Brendel und hofft, wie auch Norbert Rauer und Josefine Hannig, auf einen zweiten, glücklicheren Teil der Geschichte um den Kelch.

Stichwort Beutegut

Das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste ist national und international der zentrale Ansprechpartner zu Fragen unrechtmäßiger Entziehungen von Kulturgut, das sich in den Museen befindet. Kulturgutverluste werden als Such- und Fundmeldungen in der öffentlich zugänglichen Datenbank „Lost Art“ dokumentiert. Sie enthält aktuell etwa 171 000 detaillierte und mehrere Millionen weitere Einträge bezüglich der Zeit des Nationalsozialismus, der sowjetischen Besatzung und der DDR sowie der Kolonialzeit. Infos unter www.kulturgutverluste.de.