Der Verbrecher als Mythos: Al Capone inspirierte auch Hollywood

Ein Kleinganove, der Karriere in der Unterwelt macht: Diese Lebensgeschichte fasziniert auch Filmemacher und das Kinopublikum. Das Genre der Gangsterfilme war und ist allerdings nicht unumstritten.

Vor 125 Jahren, am 17. Januar 1899, wurde Al Capone geboren. Bereits zu Lebzeiten galt der italo-amerikanische Unterweltboss als Mythos. Diesen Umstand machte sich auch Hollywood zunutze. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) wirft Filmwissenschaftlerin Felicitas Kleiner aus gegebenen Anlass einen Blick auf das Genre des Gangsterfilms. Kleiner ist Redakteurin beim Portal filmdienst.de.

KNA: Frau Kleiner, bereits zu Lebzeiten von Al Capone kamen mit „Public Enemy“ 1931 und „Scarface“ 1932 die ersten Filme mit Bezug zu dem Mafiaboss heraus. Worin lag für Hollywood der Reiz, sich mit einer solchen Figur zu beschäftigen?

Kleiner: In den späten 1920er-Jahren kam der Tonfilm auf, und mit ihm florierten neue Genres. Eines davon war der Gangsterfilm der 1930er: Die Macher in Hollywood gingen daran, mit den neuen filmischen Mitteln von etwas zu erzählen, was damals brandaktuell war, nämlich der Bandenkriminalität in den Großstädten – in Filmen, die rauer und realitätsnaher waren als zum Beispiel die großen Abenteuerfilme der 1920er. Gesellschaftlicher Hintergrund dafür waren die Weltwirtschaftskrise und die damit einhergehenden sozialen Probleme, aber auch die Alkoholprohibition, durch die der illegale Handel mit Alkohol und die organisierte Kriminalität florierten.

KNA: Dem Kinopublikum…

Kleiner: …waren all diese Dinge sehr präsent. Als stilbildend für das Genre gilt unter anderem „Der kleine Cäsar“ von Mervyn LeRoy, in dem Edward G. Robinson die Hauptrolle des Gangsterbosses Caesar Enrico Bandello übernahm. Den Filmemachern ging es unter anderem darum, die Hintergründe psychologisch auszuleuchten. Warum wird einer zum Kriminellen? Natürlich erzählen die Filme oft auch warnend von dem meist nicht so schönen Ende ihrer Protagonisten.

KNA: Caesar Bandello wird von Polizisten erschossen. Wie ging es mit den Gangster-und Mafiafilmen weiter?

Kleiner: In den 1950er-Jahren, als das klassische Studiosystem in Hollywood noch funktionierte, gab es ein paar Rückgriffe auf die klassischen Gangsterfilme, zum Beispiel in dem Al-Capone-Portrait von 1959, in dem Rod Steiger die 1947 verstorbene Unterweltgröße verkörperte. Zu einem neuen Aufschwung des Genres kam es dann in den späten 60er- und dann in den 70er-Jahren durch das New Hollywood Kino, das sich damals jenseits der Studio-Strukturen etablierte.

KNA: Warum war gerade New Hollywood so offen für Stoffe aus dem Gangstermilieu?

Kleiner: Ich denke, dass teilweise der Outlaw-Charakter von solchen Figuren eine Rolle gespielt hat und als Projektionsfläche für den rebellischen 1968er-Zeitgeist fungierte. Das war sicher der Fall bei „Bonnie und Clyde“ mit Warren Beatty und Faye Dunaway aus dem Jahr 1967. Darin ging es um das gleichnamige Verbrecherduo, das in den 30ern für Schlagzeilen in den USA sorgte.

KNA: Aber das war nicht das einzige Motiv, oder?

Kleiner: Nein. Die Regisseure des New Hollywood besaßen eine Sensibilität für gesellschaftliche Schieflagen und blickten kritisch auf amerikanische Mythen. Die Gangster-Thematik nutzten sie auch als Folie, um von den Schattenseiten und den brutalen Aspekten des „American Way of Life“, des Strebens nach Glück, Geld und Erfolg zu erzählen: Die Film-Unterweltbosse verkörperten die unschöne, gewalttätige und skrupellose Seite des amerikanischen Unternehmertums und des Traums vom sozialem Aufstieg. Ein Zug, der das Gangster-Genre bis heute mit prägt.

KNA: Wir nähern uns den ganz großen Klassikern wie „Der Pate“, „Es war einmal in Amerika“, „GoodFellas“. Auffallend oft haben daran US-Regisseure und -Schauspieler mit italienischen Wurzeln wie Martin Scorsese oder Robert de Niro mitgewirkt. Ein Zufall?

Kleiner: Naja, ich würde jetzt nicht sagen, dass das Genre eine rein italo-amerikanische Angelegenheit war. Aber natürlich hat man für bestimmte Rollen bestimmte Typen gesucht und dann eben Schauspieler wie Robert de Niro oder Al Pacino verpflichtet. So, wie man im Übrigen später dann latinoamerikanische Schauspieler gerne in Gangster-Klischeerollen gecastet hat. Bedenken sollte man außerdem, dass das Genre auch aus ganz anderen Gegenden beeinflusst wurde.

KNA: Nämlich?

Kleiner: Mir fallen in dem Zusammenhang die japanischen Yakuzafilme der 60er-Jahre ein. Aber auch europäische Produktionen wie „Der eiskalte Engel“ mit Alain Delon.

KNA: Schon beim Film „Scarface“ beklagten Kritiker in den 30er-Jahren eine Verherrlichung von Gewalt, die Zensur verpasste dem Streifen den Zusatz „Die Schande der Nation“, um deutlich zu machen, dass es hier nicht um positives Heldentum geht. Haben sich solche Debatten erledigt?

Kleiner: An der Kritik an dem Genre ist durchaus was dran. Es gibt ja auch diese kolportierten Geschichten, wonach reale Mafiosi sich Coppolas „Paten“ sozusagen als Blaupause genommen haben. Ich sehe das ähnlich wie bei Kriegsfilmen: Der Grat zwischen kritischer Aufarbeitung und einer gewissen Verklärung ist sehr schmal und liegt teilweise natürlich auch im Auge des Betrachters.

KNA: Wo ist die Gratwanderung gelungen?

Kleiner: Ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit ist sicherlich „The Irishman“ aus dem Jahr 2019. Der liefert eine gnadenlose Dekonstruktion von Gangstermythen. Was wir dort sehen, ist um Klassen besser als diese Action-Filme, die irgendwelche Bandenkriege nur als Steilvorlage für sinnloses Herumgeballere nutzen.