Der türkische Prediger Fethullah Gülen ist tot
Er sah sich als Versöhner von Islam und Moderne. Kritikern galt Gülen als Wolf im Schafspelz. In der Türkei wurde er vom Erdogan-Verbündeten zum Staatsfeind Nummer Eins. Auch in Deutschland ist seine Bewegung umstritten.
Noch in der Nacht des gescheiterten Militärputsches vom 15. Juli 2016 benannte Recep Tayyip Erdogan in einer Fernsehansprache den angeblichen Drahtzieher: Die Massenbewegung des Predigers Fethullah Gülen stecke hinter dem Coup, behauptete der türkische Präsident über seinen früheren Verbündeten. In den folgenden Monaten wurden Zigtausende “Fethullahcis” verhaftet oder verloren ihre Posten im Staatsapparat, Gülens Medienimperium und Unternehmen, die Schulen und Hochschulen der Bewegung wurden hinweggefegt von Erdogans Rache. Der Staatsfeind Nummer Eins verfolgte die Dinge aus seinem Exil in den USA. Dort starb Gülen am Sonntagabend im Alter von 83 Jahren, das Ende seines Lebenswerks vor Augen.
Jahrzehntelang war der Imam die einflussreichste Autorität im türkischen Islam – und die umstrittenste. Geboren 1941 in der ostanatolischen Provinz, scharte er nach einer theologischen Ausbildung landesweit Anhänger mit charismatischen Predigten um sich. Seine Kernbotschaft: Konservativer Islam und Fotschritt sind kein Widerspruch, im Gegenteil. Dazu integrierte Gülen Ideen der Völkerverständigung, interreligiösen Dialog und moderne Wissenschaft in seine Lehre. Neben Frömmigkeit und guten Taten forderte er von den Muslimen vor allem eins: Bildung, Bildung, Bildung. “Baut Schulen statt Moscheen!”
Gülens Mixtur aus Glaube und Fortschritt traf den Nerv vieler im aufstrebenden türkischen Mittelstand, die im Laizismus von Republikgründer Kemal Atatürk die religiöse Heimat vermissten. Seine Bewegung “Hizmet” (“Dienst”) wuchs in den 1980er Jahren zur Massenbewegung. Zu ihren besten Zeiten sollen bis zu acht Millionen Muslime dem “Hodscha efendim”, dem ehrenwerten Lehrer gefolgt sein. Auf dieser Machtbasis strebte Gülen eine tiefgreifende Umgestaltung der türkischen Gesellschaft, eine islamische Renaissance an.
Neben Schulen und Universitäten gründeten die Fethullahcis Radiostationen und TV-Sender, die auflagenstarke Zeitung “Zaman”, Buchverlage und Stiftungen, Banken und Firmen. Gleichzeitig drängten gut gebildete Gülenisten auf Geheiß ihres Meisters an die Schaltstellen des türkischen Staates. Ab den 1990er Jahren gewannen sie führenden Einfluss im Innen- und Justizministerium, übernahmen Posten in der Polizei, stellten Richter und Staatsanwälte. Dank der großen türkischen Diaspora expandierte die Bewegung auch im Ausland. In mehr als 50 Ländern ist sie mit Schulen, Organisationen und “Dialogvereinen” präsent. Auch in Deutschland bestehen Schulen, Studentenhäuser und rund 150 Nachhilfezentren. Sprachrohr der Bewegung ist die Berliner Stiftung “Dialog und Bildung”.
Die kemalistischen Eliten in der Türkei vermuteten hinter dem unheimlichen Aufstieg des Hodschas eine islamistische Agenda zur Übernahme des Staates, die selbst vor dem Allerheiligsten, der Armee, nicht haltmachte. Als 1999 ein Video auftauchte, in dem Gülen seine Anhänger aufrief, das System zu unterwandern, floh der Prediger vor einem Prozess in die USA, ohne in der Türkei an Einfluss zu verlieren.
Dafür sorgte sein Pakt mit dem künftigen Präsidenten Erdogan. Beide einte das Ziel, der Türkei im Zeichen der Reislamisierung neue nationale Größe zu verschaffen und den kemalistischen “tiefen Staat” zu bekämpfen.
Doch ab 2010 zeigte das Männerbündnis Risse. Gülen missbilligte nicht nur Erdogans Zugehen auf die Kurden und seinen israelfeindlichen, antiwestlichen Kurs. Gülenistische Staatsanwälte wagten auch Korruptionsermittlungen gegen regierungsnahe Kreise, darunter Erdogans Sohn. Offenbar gelang es der Bewegung auch, in Teilen der Armee Fuß zu fassen. Eine Mitwirkung am Putsch von 2016 hat Gülen vehement bestritten.
Liberale Kritiker meinten, unter dem Lack dialogreicher Botschaften und sanfter Attitüde des “anatolischen Gandhi” verberge sich ein zutiefst reaktionäres Islamverständnis mit der Scharia im Zentrum. Sie verweisen auf Äußerungen, in denen Gülen die Todesstrafe für Konvertiten rechtfertigt, den Dschihad preist, Demokratie und Frauenrechte relativiert. Seine Ablehnung der Evolutionslehre als “atheistischen Materialismus” weckte Befremden. Der sektenartige, streng hierarchische Charakter der Bewegung stieß auch in Deutschland auf Misstrauen und auf Interesse beim Verfassungsschutz.
Die Zukunft von “Hizmet” sieht nach dem Tod ihres schillernden Gründers, der auch gute Kontakte zur CIA unterhalten haben soll, eher düster aus. “In der Türkei spielt die Bewegung keine Rolle mehr, nur noch im Ausland”, sagte Yunus Ulusoy vom Essener Zentrum für Türkeistudien am Montag der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Zudem habe Gülen keinen charismatischen Nachfolger aufgebaut. “Die goldenen Zeiten von Hizmet sind vorbei.”