“Der schlimmste Mensch der Welt” – TV-Premiere zu Selbstfindung

“Der schlimmste Mensch der Welt” ist Julie natürlich nicht. Doch ihre herausfordernde und schnelllebige Selbstfindung ist Thema des gleichnamigen mit großer Tiefgründigkeit erzählten Dramas.

Die junge Norwegerin Julie (Renate Reinsve) ist auf der Suche nach sich selbst
Die junge Norwegerin Julie (Renate Reinsve) ist auf der Suche nach sich selbstOslo Pictures

Ein Sommerabend in Oslo. Goldenes Licht schwebt über der Stadt, die sich dem Blick einer jungen Frau (Renate Reinsve) wie ein Panorama unendlicher Möglichkeiten öffnet. Rauchend steht sie in einem zarten schwarzen Abendkleid auf einer Anhöhe, hat für einen Augenblick das laute Treiben einer Feier in der hinter ihr liegenden Villa verlassen, um kurz ganz bei sich zu sein. Nur ihr Smartphone trägt sie bei sich, zu dem ihre Aufmerksamkeit ganz automatisch zurückwandert. Dieser Moment ist ein Wendepunkt in Julies Leben, eine Zäsur mit weitreichenden Folgen, wie sich herausstellen wird.

Regisseur Joachim Trier entwirft die Geschichte seiner Protagonistin in einem literarischen Gestus in zwölf Kapiteln, gerahmt von Prolog und Epilog. Eine weibliche Erzählerstimme aus dem filmischen Off kommentiert Julies Entwicklung und Werdegang mit sanfter Ironie.

Neue Frisur und Trennung vom Freund

Zu Beginn ist Julie noch Medizinstudentin ohne große Leidenschaft, in der Hoffnung, auf diese Weise dem Schulabschluss mit Bestnote irgendeinen Sinn zu verleihen. Sie findet keine Verbindung zum Fach, die ständig auf dem Smartphone blinkenden Benachrichtigungen zerstören jeden Versuch der Konzentration. Die Kontrolle über das eigene Leben zurückzugewinnen gelingt selbst durch einen vorübergehenden Wechsel auf ein altes Nokia-Handy nicht. Schon bald scrollt Julie wieder durch ihre Bilder, probt den Neuanfang mit einem Fachwechsel in die Psychologie.

Eine neue Frisur, ein anderer Look und die Trennung von ihrem Freund unterstreichen den neuen Identitätsentwurf, der wieder nicht von Dauer ist. Als Julie ihrer Mutter offenbart, dass sie vorhat, ihr Studium abzubrechen, um Fotografin zu werden, erntet sie die immer gleiche, unpersönliche Bestätigung. Reibungspunkte sucht die junge Frau bei ihren Eltern vergebens. Hinter der liberalen Erziehung offenbart sich eine irritierende Gleichgültigkeit, die Julie noch am ehesten an der Abwesenheit ihres Vaters festmachen kann. Schon vor Jahrzehnten hat er eine neue Familie gegründet und gibt sich wenig Mühe, sein Desinteresse an ihr zu verbergen. Dass Julie mit Ende zwanzig noch bei ihrer Mutter wohnt, symbolisiert den missglückten Ablösungsprozess.

Ständige Aktualisierung der eigenen Identität

Die Begegnung mit Aksel (Anders Danielsen Lie) bringt eine neue Dynamik in Julies Alltag. Er lebt selbstständig von provokanten Underground-Comics und hat klar umzeichnete Interessen: Schallplatten, Bücher und Filme säumen die Regale in seiner Wohnung, wie ein Schwamm nimmt er kulturelle Artefakte jeder Art auf, verarbeitet sie in seinen Entwürfen.

Julie (Renate Reinsve) verliebt sich in den deutlich älteren ComiczeichnerAksels (Anders Danielsen Lie)
Julie (Renate Reinsve) verliebt sich in den deutlich älteren ComiczeichnerAksels (Anders Danielsen Lie)Oslo Pictures

Der Altersunterschied von vierzehn Jahren zwischen ihm und Julie lässt ihn zögern. Er ahnt, dass dieser Generationenkonflikt größer sein könnte, als nur die Zahl der Jahre. Zu viel hat sich seit der Entgrenzung des Internets auch in den sozialen Beziehungen der jungen Menschen verändert. Es zeigt sich in Julies sprunghafter Orientierungslosigkeit, ihrem Schwanken zwischen Nähe und Distanz, einer ständigen Aktualisierung der eigenen Identität. Dennoch, oder gerade deswegen, verliebt sich Aksel hoffnungslos in Julie.

“Oralsex in der Ära von #MeToo”

Als die beiden zusammenziehen, beginnt eine herausfordernde Zeit. Aksels Selbstständigkeit wirkt auf Julie gleichermaßen inspirierend wie einschüchternd. Während er von seiner Kunst gut leben kann, arbeitet sie nebenbei in einer Buchhandlung, um Geld zu verdienen. Wutentbrannt über die fehlende Aufmerksamkeit Aksels verfasst sie einmal einen Essay mit dem provokanten Titel “Oralsex in der Ära von #MeToo“, der zu einem Social-Media-Ereignis wird. Doch ein Blog-Artikel hat in der realen Welt ein anderes Gewicht als verkaufte Ausgaben von Comic-Sammelbänden. Julie ist so viel Reibung und Herausforderung nicht gewohnt.

So kommt es an dem schicksalhaften Sommerabend, als Aksel sein neues Werk feiert, zu einem Bruch in Julies Leben, der auch den Film in zwei Hälften teilt. Auf der Suche nach Ablenkung zieht es Julie in die Weite Oslos. Kurzerhand mischt sie sich auf einer privaten Feier unter die Gäste und lernt dort Eivind (Herbert Nordrum) kennen. Der Funke springt schnell über, doch da beide vergeben sind, entspinnt sich ein selbstironisches Spiel um die Grenzen des Fremdgehens. Ist das Trinken aus derselben Flasche schon eine Übertretung? Ein gemeinsamer Gang auf die Toilette oder das Sich-Versenken in den Geruch eines verschwitzten Hemdes? Noch nie war eine gemeinsam gerauchte Zigarette so poetisch und erotisch zugleich.

Oslo ist kleiner als gedacht

Eivind und Julie verraten sich auch am nächsten Morgen ihre Nachnamen nicht, um die Versuchung zu vermeiden, sich auf Social Media ausfindig zu machen. Doch Oslo ist kleiner als gedacht, ein zufälliges Wiedersehen bleibt nur eine Frage der Zeit. Für Julie spaltet sich das Leben innerlich in zwei Teile. Sie fühlt sich nicht bereit für Aksels Kinderwunsch und seine Verbindlichkeit. Der gleichaltrige Eivind scheint ihr in seiner Wahrnehmung der Welt sehr viel ähnlicher zu sein. Aber ist die seelische Entwicklung ohne eine Konfrontation mit dem anderen zu haben?

 Julie trifft den gleichaltrigen Eivind
Julie trifft den gleichaltrigen EivindOslo Pictures

Über die dynamische Konstellation eines Beziehungsdreiecks entfaltet Joachim Trier ein prägnantes Porträt des Zeitgeistes aus der Gegenwart heraus. Dabei arbeitet er die vielfältigen technologischen und sozialen Umbrüche auf der Figurenebene mit großer psychologischer Genauigkeit heraus. In der Ära von “Political Correctness” und “Cancel Culture” werden Aksels freizügige Comics plötzlich zu einem Paradebeispiel für die berüchtigte “toxische” Männlichkeit. Seine Versuche, sich zu verteidigen, sind so gut geschrieben, dass sie exemplarisch für die neuen Kulturkämpfe wirken, die ohne die sozialen Netzwerke undenkbar wären.

Soziale Konsequenzen der permanenten digitalen Verfügbarkeit

Zugleich betrauert Joachim Trier in Aksels Figur auch einen kulturellen Verlust, der damit einhergeht. Der tägliche Gang in den Plattenladen und die private Filmsammlung zeugten noch von bedeutungsvollen Objektbeziehungen, die im immateriellen Zeitalter des Streaming im Verschwinden begriffen sind. Welche sozialen Konsequenzen sich aus dieser permanenten digitalen Verfügbarkeit ergeben, zeigt Joachim Trier in den Beziehungen und scheiternden Selbstentwürfen seiner Figuren sehr eindrücklich.

Gleichwohl ist “Der schlimmste Mensch der Welt” ein lebensbejahender Film voller untergründigem Humor. Er zeigt Julies Weg auf der Suche nach sich selbst in einer undurchsichtigen, immer schneller werdenden Welt. Die Konventionen der Coming-of-Age-Narrative stimmen nicht mehr, da die Reibungspunkte, an denen sie sich früher entwickelt haben, kaum noch existieren. Umso sensibler erzählt der Film von den Problemen und den sich andeutenden neuen Weisen der Selbstfindung.

“Der schlimmste Mensch der Welt”: Mittwoch, 15. Mai, 20.15 Uhr, Arte