Was fangen wir an mit dem Kreuz Christi? Wie können wir die verstörende Erzählung vom gewalttätigen Tod des Gottessohnes verstehen, und: Brauchen wir heute neue Zugänge zu Jesu Kreuzestod, der jahrhundertelang vor allem als Sühneopfer für die menschliche Schuld verstanden wurde?
Die letzte Frage muss offenbar mit Ja beantwortet werden. Das zeigen die vielen Versuche der vergangenen Jahrzehnte, sich dem Kreuz anzunähern. In der Befreiungstheologie, der kontextuellen Theologie und der feministischen Theologie etwa meldeten sich schon seit den 60er Jahren Stimmen, die Jesu Tod nicht einseitig als Opfer sehen wollten, das für die Versöhnung mit Gott notwendig sei. Stattdessen stellten Theologinnen und Theologen wie auch Laien das Mitleiden Gottes mit seinen Menschen und seiner Schöpfung in den Vordergrund. Es wurde als Trost empfunden, dass Gott erlebt, was auch seine Menschen erleben: Ungerechtigkeit, Gewalt, ein qualvolles Sterben – und schließlich den Tod.
An diese Interpretation knüpft jetzt der Theologe Reiner Knieling, Leiter des Gemeindekollegs der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirchen Deutschlands (VELKD), an und denkt sie weiter. Er sucht nach einem Weg, „der das Anstößige des Kreuzes ernst nimmt, aber nicht jede Deutung für plausibel halten muss, die sich im Laufe der Jahrhunderte entwickelt hat“, wie er in einem Artikel für das evangelische Magazin „Zeitzeichen“ schreibt.
Knieling findet Gott „im konkreten Leiden am Kreuz, in seinen Schmerzen und seinem Schrei“ – und zwar so, „dass Gott ganz präsent ist und doch nicht vom schwarzen Loch des Todes verschlungen wird“. Eine Vorstellung, die sich menschlicher Logik entgegenstellt, ein Paradox: Gott ist gerade da, wo der Mensch sich von ihm verlassen fühlt, wo er Gott als abwesend, fremd, dunkel erlebt. „Gott in Schmerz, Schande, Entehrung, Demütigung und Fluch anwesend, das ist eine Zumutung für das Erleben eigener Not und eigenen Schmerzes“ – „kein Gott wie ihn Menschen sich wünschen“, so der Theologe. Denn selbst, wenn wir erleben, dass Gottes Nähe in unserem Leiden spürbar wird, „aufblitzt“, wie Frieling formuliert, so bleibt doch die Frage: Warum hilft er nicht? Die Hoffnung auf die Überwindung des Leids und des Todes, wie die Jünger sie in der Auferweckung Jesu sehen, bleibt angefochten.
Um den Widerspruch von dem leidenden Gott und dem Gott im Leid denken zu können, bietet Frieling das Bild der Dreieinigkeit, der Trinität an, das Gott als „mehrgestaltig und zugleich mit sich einig“ versteht. Dabei betont er, dass alle Bilder, in denen wir Menschen von Gott sprechen, immer nur Annäherungen sein können. Gottes Wirklichkeit wird damit niemals ganz erfasst; sie übersteigt und sprengt all unsere Vorstellungen. In diesem Sinne schreibt Frieling: „Der Vater-Mutter-Gott leidet an dem Schmerz des Sohnes und der Not dieser Welt. Er leidet an der Art und Weise, wie der Sohn und er auseinandergerissen werden.“ Gott leidet aus Liebe, und für diese Liebe mit ihrer Kraft und Energie steht der Heilige Geist.
Wichtig bei dieser Annäherung ist Frieling die enge Verbindung, ja Einheit zwischen Vater und Sohn. Diese Gottessohnschaft sei in der Tradition vernachlässigt worden und die Auslegung des Kreuzes damit auf eine schiefe Bahn geraten: „Denn dann ist es nicht mehr Gott selbst, der sich hingibt. Dann bleibt nur noch der Mensch Jesus, der zum Opfer wird.“
Dass wir Gott stattdessen im Schmerz wahrnehmen und glauben können, fordert zu einem Wandel unseres Gottesverständnisses heraus, schreibt Knieling – und auch unsere Art, von Gott zu reden, muss sich dabei verändern. „Wenn Gott als Sohn den Schmerz dieser Welt erträgt und mit in den Tod nimmt, ist das voller Leidenschaft und Lebenswillen“ – aber es gilt eben auch: „Wenn Gott den Sohn von den Toten auferweckt, ist das voller Schöpfungsenergie und Lebenskraft.“
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Der leidende Gott
Das Kreuz Christi ist und bleibt ein Ärgernis. Gerade darum versucht sich die Theologie an neuen Zugängen. Eine trinitarische Deutung des Kreuzestodes bietet der Theologe Reiner Knieling
