Der Klage Raum geben

Trauer kann einsam machen. Gedanken zum Predigttext am Vorletzten Sonntag des Kirchenjahres Von Ulrike Reichardt

Predigttext am vorletzten Sonntag des Kirchenjahres: Hiob 14,1–6 (7–12) 13 (14) 15–17

Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe, geht auf wie eine Blume und welkt, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht. Doch du tust deine Augen über einen solchen auf, dass du mich vor dir ins Gericht ziehst. Kann wohl ein Reiner kommen von Unreinen? Auch nicht einer! Sind seine Tage bestimmt, steht die Zahl seiner Monde bei dir und hast du ein Ziel gesetzt, das er nicht überschreiten kann: so blicke doch weg von ihm, damit er Ruhe hat, bis sein Tag kommt, auf den er sich wie ein Tagelöhner freut. Ach dass du mich im Totenreich verwahren und verbergen wolltest, bis dein Zorn sich legt, und mir eine Frist setzen und dann an mich denken wolltest! Meinst du, einer stirbt und kann wieder leben? Alle Tage meines Dienstes wollte ich harren, bis meine Ablösung kommt. Du würdest rufen und ich dir antworten; es würde dich verlangen nach dem Werk deiner Hände. Dann würdest du meine Schritte zählen und nicht achtgeben auf meine Sünde. Du würdest meine Übertretung in ein Bündlein versiegeln und meine Schuld übertünchen.

Von Ulrike Reichardt Der Mann erzählt, wie er sein Leben lang nach dem Vater suchte, der im Krieg verschollen ist. Es gibt kein Grab, es gibt keine Gewissheit. Leere und Sehnsucht lähmen ihn noch heute. Die Frau im Hospiz steht am Bett ihres verstorbenen Mannes. Er ist gegangen. Unwiederbringlich ist das Leben zu Ende. Am Strand von Lesbos liegt der kleine Junge. Bei der Flucht über das Mittelmeer ist er ertrunken. Das Bild ging um die Welt, und es ging durch Mark und Bein. Wer hat Schuld? Wer hat versagt?Ja, der Tod ist die tiefste Verletzung des Lebens. Hiob ist untröstlich. Er klagt über den Verlust seiner Kinder, seiner materiellen Existenz, seiner Gesundheit. Was bleibt? Blumen und Bäume sind vitale Bilder des Lebens. Oft dienen sie als Metaphern des Wiederkehrenden. Aber verlorenes Leben kommt nicht wieder. Und auch an eine Auferstehung kann Hiob jetzt nicht glauben. Was kann trösten? Die Worte seiner Freunde verhallten förmlich. Sie erreichen sein Herz nicht. Worte wurden leer. Es ist besser nichts zu sagen. Aber wer hält das Schweigen aus?

Fragen mögen verstummenTrauer isoliert und macht einsam. Doch Hiob bleibt nicht wirklich allein. Er sucht seinen Gott. Er ruft und klagt ihn an. Gott, von dem gesagt wird, dass er uns sieht, dass er sein Angesicht über uns erhebt, den bittet Hiob, dass er wegschauen, ihn in Ruhe lassen möge. Dass alle Fragen nach sinnlosem Tod und Leid, nach unlösbarer Schuld und nach nicht wieder gutzumachendem Versagen endlich, endlich verstummen mögen.

Ausgabe kaufen und weiterlesen