Die Ehrfurcht ist spürbar, flutet den ganzen Raum wie das Sonnenlicht, das durch die Fenster bricht. Vorsichtig. Ganz vorsichtig setzt Christoph Sanders den Pinsel auf die Glasscheibe und bewegt ihn sanft hin und her. Fast schon meditativ sind die Bewegungen des erfahrenen Glaskünstlers. Hier spürt man den Atem der Jahrhunderte.
Seit wenigen Wochen sind die ersten Glasfenster aus dem Chorraum der Wiesenkirche in der renommierten Glaswerkstatt Peters in Paderborn zur Aufbereitung. „Das ist der Schmutz von Jahrhunderten“, erklärt Sanders und lässt den Pinsel weiter über die bunte Fläche gleiten.
Eine große Überraschung für die Fachleute
Als das meterhohe Gerüst Mitte Oktober in der Wiesenkirche aufgebaut worden war und die gläsernen Kunstwerke damit erstmals seit vielen Jahren wieder aus nächster Nähe in Augenschein genommen werden konnten, erlebten die Fachleute der Paderborner Glaswerkstatt, vom Landschaftsverband und der Dombauhütte eine große Überraschung: Weitaus mehr der beeindruckenden Fenster als bisher angenommen sind noch original erhalten, stammen aus der Zeit zwischen 1345 und 1357.
Selbst der Dombaumeister an der „Westfälischen Kathedrale“ geriet in Verzückung: Jürgen Prigl strahlte und ließ sich zu der für ihn ungewöhnlichen Formulierung hinreißen: „Das ist eine Sensation. Eine absolute Sensation.“
Eine Einschätzung, die von Christoph Sanders ebenso geteilt wird wie von Dirk Strohmann, dem Fachmann des Landschaftsverbandes für historische Farbverglasungen: „Damit war nicht zu rechnen.“ Und Sanders ergänzt: „Einige Fenster im Kölner Dom sind vergleichbar. So alte Fenster findet man in Deutschland nur noch ganz selten.“ Damit wird die Bedeutung der ohnehin schon hoch eingeschätzten Glasmalerei in St. Maria zur Wiese auf eine ganz andere Ebene gehoben. Prigl: „Es gibt nichts Schöneres und Wertvolleres als die Fenster dieser Choranlage. Das ist einzigartig. Damit gehört unsere Kirche ganz nach oben in der europäischen Kathedralenszene.“
Wohl auch deshalb ist Wilhelm Peters, Chef der gleichnamigen Glaswerkstatt aus Paderborn, von dem Auftrag angetan, dass er euphorisch formuliert: „Das ist das Schönste, was Westfalen zu bieten hat. Das ist das mit Abstand größte Ensemble mittelalterlicher Glasfenster.“
Arbeit hat etwas von der eines Chirurgen
An diesem Auftrag werden Peters und seine Mitarbeiter in den kommenden Jahren alle Hände voll zu tun haben, denn an den Fenstern – und das ist auch für den Laien ersichtlich – hat der berühmte Zahn der Zeit genagt. Christoph Sanders: „Der Substanzverlust ist leider unübersehbar.“ An vielen Stellen blättert die Oberfläche ab, an anderen hat sich der Schmutz ins Glas gefressen. „Den“, so Sander, „müssen wir ganz vorsichtig abtragen“. Der Versuchung, die in Jahrhunderten verloren gegangenen Teile eventuell zu ersetzen, werden die Fachleute widerstehen: „Es weiß ja keiner, wie das im Original ausgesehen hat. Deshalb machen solche Ergänzungen keinen Sinn. Was nicht mehr da ist, bleibt unwiederbringlich verloren“, erklärt der Fachmann.
Vielmehr stehen die Säuberung und Konservierung dieser so einzigartigen Glasmalerei im Mittelpunkt der aufwändigen Restaurierung. Das, so die Fachleute, werde dafür sorgen, dass die Fenster anschließend in einem buchstäblich anderen Licht erstrahlen können.
„Unsere Arbeit hat etwas von der eines Chirurgen“, erklärt Christoph Sanders die Handwerkstechnik. Mit einem Skalpell wird dabei der verkrustete Schmutz ganz vorsichtig abgetragen. Neben dem Skalpell kommen ansonsten nur noch trockene Pinsel ohne Zusätze zum Einsatz. Um das Glas nicht zu schädigen, tragen die Restauratoren zudem weiche Handschuhe. Hin und wieder wird auch zum Lötkolben gegriffen, nämlich immer dann, wenn das Bleinetz der historischen Fenster konsolidiert werden muss.
Wertvolle Hilfe bei der Dokumentation leisten auch die Mikroskope. Unter ihnen werden die verschiedenen Malschichten aus den Jahrhunderten sichtbar. Sander: „Es ist in den vielen Jahren natürlich immer wieder mal etwas kaputt gegangen – zum Beispiel in den verschiedenen Kriegen. Zum Teil ist es dann wieder ersetzt worden.“ Und natürlich werden sämtliche Arbeitsprozesse haarklein dokumentiert und fotografiert.
Schließlich soll die Nachwelt einmal genau nachvollziehen können, was Anno 2016 bis 2019 mit den Fenstern passiert ist. So wie man auch heute ziemlich genau weiß, wann und von wem die filigranen Kunstwerke in der Vergangenheit restauriert worden sind.
Im Grunde lassen sich dabei drei Zeitepochen festhalten: Die Originale stammen aus dem Mittelalter. Dann die erste große Restaurierungskampagne um 1881 durch Nikolaus von Roermond und eine weitere nach dem Krieg durch Gottfried von Stockhausen. Sander: „Durch diese verschiedenen Restaurierungen ist dieses unglaubliche Ensemble entstanden. Alle Ergänzungen sind sehr gut gemacht und ergeben ein sehr schönes Gesamtbild.“
„Mindestens 100 Jahre“, so der Experte, sind die Wiesefenster nach der Restaurierung geschützt. Dazu trägt auch ein in Paderborn entwickeltes Sensorsystem bei, das bisher nur im Kölner Dom zum Einsatz kommt. Die Sensoren, die zwischen Fenster und Schutzverglasung eingelassen werden, sammeln eine Fülle von Daten über Temperatur und Luftfeuchtigkeit und überspielen diese an einen Computer oder auf ein Handy. Dadurch kann sofort reagiert werden, wenn sich die Bedingungen einem kritischen Punkt nähern.
Rund 820 000 Euro kostet die Restaurierung
„Der größte Feind der Fenster“, weiß Jürgen Prigl, „ist das Kondenswasser“. Im Zusammenspiel mit Schmutz und verendeten Insekten entsteht eine gefährliche Mischung. Prigl: „Das wirkt wie eine äußerst aggressive Säure und hat fatale Folgen.“
Mit 820 000 Euro werden die Gesamtkosten für die Maßnahme, die in 2019 abgeschlossen sein soll, beziffert. Der Bund unterstützt die Restaurierung dabei mit 400 000 Euro. Das ist die Höchstförderung, die in solchen Fällen bewilligt wird. Geld, das in Augen der Experten mehr als gut angelegt ist, wie Dombaumeister Jürgen Prigl deutlich macht: „Diese Fenster sind ein unglaublicher Schatz der Vergangenheit. Gleichzeitig sind sie für uns eine Verpflichtung für Gegenwart und Zukunft.“
