Den Sängern aufs Maul geschaut

Der Kirchenmusiker Klaus Wedel hat beobachtet, dass viele Menschen zunehmend Mühe haben, hohe Töne zu singen. Er hat darum Lieder aus dem Gesangbuch in tiefere Tonarten setzen lassen

Tiefer singen? Kirchenmusiker Klaus Wedel aus Bayern arbeitet an einem Projekt: Bald werden neue Bücher mit Begleitsätzen für Gesangbuchlieder für Orgel und Posaunenchor herausgegeben. Tiefer gesetzt, weil es nötig ist – davon ist Klaus Weder nach über 40 Jahren als Kantor und Organist überzeugt.
In rund sieben Jahrzehnten wanderte zum Beispiel der Choral „Macht hoch die Tür“ eine kleine Terz – drei Halbtöne – nach unten: War das bekannte Adventslied im Evangelischen Kirchengesangbuch aus den 1950er Jahren noch in der Tonart F-Dur abgedruckt, ging es im Evangelischen Gesangbuch (EG), das in den 1990ern eingeführt wurde, einen Ganzton runter auf Es. Für seine neue Sammlung von rund 50 Liedern aus dem Stammteil des EG hat Wedel das Lied noch einmal einen Halbton nach unten transponiert.

Schon geübte Sänger haben Schwierigkeiten

„Nach fünf Strophen pfeift man aus dem letzten Loch“, erinnert sich der Präsident des in Nürnberg ansässigen Verbands Evangelischer Kirchenmusiker in Bayern an ein Erlebnis, als er einmal nicht an der Orgel, sondern in der Kirchenbank beim Gottesdienst saß. Und wenn es ihm, dem ehemaligen Windsbacher Chorknaben und somit geübten Musiker und Sänger, schon so geht, dann empfinden mit Sicherheit auch die Laien das ein oder andere Stück als zu hoch zum Singen. Die Folge: Die Menschen bleiben stumm. Und das sei keine gute Entwicklung.
Das Phänomen, dass tendenziell die Stimmlage beim Singen und Sprechen nach unten gegangen ist, kann Thomas Gropper, Professor für Gesang, Stimmkunde und Gesangsdidaktik an der Hochschule für Musik und Theater München, erklären. „Allgemein werden die Menschen im Durchschnitt größer. Ein größerer Körper bildet in der Regel größere Strukturen aus, somit auch größere Stimmlippen. Das führt zu einer tieferen Stimme“, erklärt der Bariton. Ein weiterer Punkt sei gerade bei Frauen die Veränderung von Rollenbild und Habitus. „Je weniger man das nette und kichernde Mädchen verkörpert und je mehr die selbstbewusste Frau, desto körperlicher, selbstbewusster und damit auch tiefer wird insbesondere die Sprechstimme“, sagt Gropper.
Der wichtigste Grund für tiefer werdende Stimmen sei aber, dass in weiten Teilen der Bevölkerung immer weniger gesungen wird. Diese mangelnde stimmliche und gesangliche Praxis in der dafür fundamentalen Kinderzeit sorgt dafür, dass viele ihre stimmlichen Möglichkeiten in ihrem Tonraum nicht mehr erschließen. „Studien zeigen, dass etwa Kinderlieder in heutigen Liederbüchern deutlich tiefer abgedruckt sind als noch vor 30 oder 40 Jahren“, so der Professor.

Morgens fallen die hohen Töne am schwersten

Auch Monika Hofmann, Professorin für das Fach Gemeinde­singen an der Kirchenmusikhochschule in Herford, findet das Ansinnen nachvollziehbar: „Wenn die Leute in der Kirche nicht mehr mitsingen, weil ihnen die Melodie zu hoch geht, setzt man sie besser tiefer“, meint die Musikerin. Allerdings empfiehlt Hofmann, von Fall zu Fall zu entscheiden: So hätten viele Menschen vor allem morgens Schwierigkeiten mit den hohen Tönen; in einem Abendgottesdienst dagegen, wenn die Stimme schon den ganzen Tag in Gebrauch war, tut man sich leichter damit. Das würde dafür sprechen, morgens auf die tiefere Begleitung zurückzugreifen und nachmittags oder abends vielleicht die höhere zu wählen.
Für geübte Kirchenmusikerinnen und -musiker ist das kein Problem: Sie lernen schon im Studium, spontan zu transponieren, also Melodie und Begleitstimmen auch ohne Noten in die Höhe oder die Tiefe zu verschieben. Für Organisten mit weniger Erfahrung oder auch Posaunenchöre findet Hofmann das Angebot von Klaus Wedel aber durchaus hilfreich.
Einige Melodien möchte die Kirchenmusikerin jedoch lieber in der Originalversion singen lassen, denn: „Die Komponisten haben sich ja schon etwas dabei gedacht, wenn sie bestimmte Texte mit hohen Tönen verbinden.“ Tiefer gesungen, verlieren diese Melodien an Strahlkraft und Fröhlichkeit.

Manches Lied strahlt nur in der Höhe

Hofmann nennt ein Beispiel: das beliebte englische Weihnachtslied „Joy to the world“, „Freue dich, Welt“, das in vielen Weihnachtsgottesdiensten gesungen wird – auch in Bethlehem, wo Hofmann seit Jahren zu Weihnachten musiziert. „Der Posaunenchor spielt das tiefer, weil die ursprüngliche Tonart schwer zu blasen ist“, erklärt sie. „Aber wenn ich danach mit der Orgel einsetze, nehme ich die höhere Version, und die Leute wollen das so – sie schmettern dann richtig begeistert mit.“
Vieles spricht also für das  Buchprojekt von Klaus Wedel. Er hat dafür befreundete Musiker gefragt, ob sie ihm Stücke neu setzen würden. Zuvor ist er sämtliche 535 Lieder des Stammteils durchgegangen und hat eine Auswahl getroffen. „Nach bester lutherischer Manier habe ich dem Volk aufs Maul geschaut. Beziehungsweise zugehört, was beim Gesang da erklingt“, so Wedel launig.