Das Sandmännchen feiert 65. Geburtstag

Am Freitag feiert “Unser Sandmännchen” 65. Geburtstag. Noch immer schauen täglich eine Million Kinder und Eltern zu, die sich an etwas Unzeitgemäßem erfreuen: Ereignislosigkeit.

Auch wenn sich nicht wenige nach einer Vergangenheit sehnen, die es nie gab: Das Fernsehen war mal so unveränderlich still, ja regungslos, wie fortschrittsmüde Nostalgiker auch die Gegenwart gerne hätten. Kein Wunder – bei drei statt 3.000 Kanälen, die gegen Mitternacht ihr Programm beendet und vormittags drauf schon mal mit einem Grashüpfer fortgesetzt haben, der in seiner zweidimensionalen Fabelwelt blassbunter Blumen ohne jeden Anflug von Langeweile sagen durfte: “Im Moment passiert nicht so viel.”

Was für ein Satz! Fast 50 Jahre nach ihrem ZDF-Debüt muss schließlich selbst bei der (längst wespentailliert) animierten Biene Maja und ihrem Freund Flip andauernd irgendetwas passieren. Um im konkurrierenden Effektgewitter von “Super Wings” bis “Cosmo & Wanda” bei SuperRTL, Disney, Nickelodeon noch aufzufallen, blitzt und blinkt, kracht und scheppert folglich auch das Nachwuchsentertainment pausenlos – gäbe es nicht die öffentlich-rechtliche Insel der Seligen, ein Refugium elaborierter Ereignislosigkeit: das Sandmännchen.

Wenn der stumme Kobold mit dem spitzen Bart am 22. November seinen 65. Geburtstag feiert, jährt sich also ein Stück Fernsehgeschichte aus einer seelenruhigeren Epoche, die in dem Fall vielleicht wirklich ein kleines bisschen besser war als unsere. Während jetzt sogar betulichere Serien wie “Yakari” nicht mehr ohne Splitscreens auskommen, hält das Sandmännchen unbeirrt sein niedriges Tempo.

Das klingt nur logisch – richtet sich der produzierende RBB darin doch an Zielgruppen, auf die bereits ein Bilderbuch mit gefräßiger Raupe absolut überwältigend wirkt. Darin, leicht unterhalten zu werden, unterscheiden sich die Vorschulkinder des Kalten Krieges trotz Digitalisierung ja kaum von denen der Gegenwart. Gewiss, als der DEFA-Trickfilmer Gerhard Behrendt aus E.T.A. Hoffmanns “Der Sandmann” und Hans-Christian Andersens “Ole Lukoje” das Sandmännchen kombinierte und zwei Wochen später schwarz-weiß ins ostdeutsche DFF schickte, war die Welt der Kleinsten beiderseits vom Eisernen Vorhang noch anders.

Zu Weihnachten gab es selbst für wohlhabende Kinder wohldosierte Mengen zutiefst analogen Spielzeugs, von dem sie seltene Fernsehsendungen wie der ostdeutsche “Abendgruß” oder die westdeutsche “Kinderstunde” abgelenkt haben. Ihre Freizeit fand sommers wie winters draußen statt. Daheim herrschte Zucht und Ordnung. Ein tägliches Unterhaltungsformat ohne Erziehungsgedanken war am 22. November 1959 entsprechend so revolutionär, vor allem aber erfolgreich, dass der Sender Freies Berlin nur neun Tage nach dem sozialistischen Original die kapitalistische Kopie für den Westen präsentierte.

Umso erstaunlicher, dass der klassenbewusste Sandmann, dessen fantastischer Fuhrpark schon mal Volksarmee oder Grenzpioniere ansteuerte, als einziger den Mauerfall überlebte. Seit 1989 reiht er sich in den winzigen Fundus ostdeutscher Produkte ein, die es neben Nudossi und Rechtsabbiegerpfeil noch gibt. Seine sehr, sehr sichtbar antiquierten Stopp-Motion-Werke aus DDR-Produktion mit Strickwollhaar in Styroporwäldern heißen ihr Publikum willkommen, bevor es modernere Figuren Richtung Bettruhe begleiten.

Zur Feier des Tages hat der RBB das nikolausartige Sandmännchen jetzt allerdings erstmals seit 30 Jahren reanimiert. “Reise zur Traumsandmühle” heißt das zwanzigminütige Jubiläumsstück von Stefan Schomerus, in dem Sprecher Florian David Fitz zeitgemäße Kids zum zeitlosen Abenteuer bittet. In aufwendig restaurierten Originalgefährten des Puppenbastlers Behrendt geht es von der Stadt übers Land in die Berge und zurück, wo Rollstühle, Hochhäuser, Diversität vorkommen – aber keine Sorgen außer Nachschubprobleme beim Sand, aus dem die Träume sind.

Schöne alte heile neue Welt, die acht weitere Vorspann-Folgen selbst dann nie trüben, wenn Sandmann darin mal Plastikmüll aus dem Meer fischt. Das Prinzip des ältesten Kinderformats links und rechts der Elbe lautet ja: frisierte Nostalgie. Und die kann sich nur dann am Entertainment-Markt behaupten, wenn die Vergangenheit nicht ganz in der Zukunft verschwindet. Aus demselben Grund hatte der RBB zum 60. Geburtstag 2019 bereits “Pittiplatsch und Schnatterinchen” kernsaniert. Zwei Fabelwesen von sagenhafter Schlichtheit, die 63 Jahre nach ihrem Debüt zwar ein frisches Umfeld bekamen, aber irgendwie die Alten sind, ohne alt zu wirken.

Puppenspielerin Susi Claus nennt das Ensemble um ihr gelbes Quietschentchen daher “ein bisschen dynamischer als früher”. Das Tempo bleibe aber “trotzdem so niedrig, wie es das Format verlangt”. In einer “technik- und schimpfwortfreien Zone”, wie ihr Kollege Christian Sengwald, der Pittiplatsch spielt, versichert. Mit dieser Mischung erreicht “Unser Sandmännchen” auf drei Kanälen plus Online-Verwertung 365 Tage im Jahr durchschnittlich eine Million Zuschauer – inklusive ihrer Eltern, die größtenteils selbst damit großgeworden sind.

“Ohne den gewohnten Zauber zu verlieren”, jubiliert die zuständige RBB-Abteilungsleiterin Familie & Kinder, Anja Hagemeier, “bleibt es auch für ganz junge Mediennutzerinnen und -nutzer eine modern erzählte, altersentsprechende Vorschulserie”. Mit einer relativ filigranen Melodie, die Wolfgang Richter in drei Stunden komponierte. “Sandmann, lieber Sandmann / es ist noch nicht so weit”, singt Sabine Meißner darin windschief schön. 1959 meinte sie zwar, ins Bett zu müssen. Der Satz gilt aber längst auch fürs Format, das der RBB überdies mit einer Dokumentarreise durch 65 Jahre Erfolgsgeschichte feiert. Mögen mindestens noch einmal so viele hinzukommen.