Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld der Welt und ihrer Kinder; es geht und büßet in Geduld die Sünden aller Sünder; es geht dahin, wird matt und krank, ergibt sich auf die Würgebank, entsaget allen Freuden; es nimmet an Schmach, Hohn und Spott, Angst, Wunden, Striemen, Kreuz und Tod und spricht: „Ich will’s gern leiden.“
Schwer zugänglich: der Kreuzestod als Opfer
Ein krasses Bild, das der Dichter Paul Gerhardt da zeichnet: Das kleine, unschuldige Lamm, bedeckt mit Wunden, zu Tode gewürgt – die reine Zumutung in einer Welt, in der wir jede Form des Schlachtens möglichst ausblenden und unser Schnitzel nur hygienisch abgepackt im Supermarkt kaufen. Dazu kommt noch die schwierige theologische Deutung des Kreuzestodes als Sühnopfer, gegen die viele Gläubige heute große Vorbehalte haben. Und das soll helfen, uns das Leiden und Sterben Jesu nahezubringen? Kaum vorstellbar, dass Gottesdienstbesucherinnen und –besucher dieses Bild als hilfreich empfinden. Pfarrerinnen und Kantoren lassen dieses und ähnliche Lieder in der Passionszeit daher nur noch selten singen.
Das ist nachvollziehbar – aber auch schade. Denn wenn man sich auf die plastische und manchmal schwärmerische Sprache Paul Gerhardts etwa im Lied vom Lämmlein einlässt, findet man in den folgenden Strophen viel von dem wieder, was auch uns im Glauben beschäftigt. Das große Thema der Liebe Gottes zu uns Menschen zum Beispiel, die wir in der Hingabe seines Sohnes erkennen können: „O Wunderlieb, o Liebesmacht, du kannst – was nie kein Mensch gedacht – Gott seinen Sohn abzwingen“ (Strophe 3). Oder das Thema des Vertrauens im Glauben, das Trost schenkt im Leiden, Sterben und bis in den Tod: „Du sollst sein meines Herzens Licht, und wenn mein Herz in Stücke bricht, sollst du mein Herze bleiben“ (Strophe 4). Noch eindringlicher formuliert der Liederdichter dieses Vertrauen in dem Lied „O Haupt voll Blut und Wunden“: „Wenn ich einmal soll scheiden, so scheide nicht von mir, wenn ich den Tod soll leiden, so tritt du dann herfür; wenn mir am allerbängsten wird um das Herze sein, so reiß mich aus den Ängsten kraft deiner Angst und Pein.“ (85,9).
Und dann gibt es in Strophe 6 noch so etwas wie eine Reiseapotheke des christlichen Lebens: „Das soll und will ich mir zunutz zu allen Zeiten machen; im Streite soll es sein mein Schutz, in Traurigkeit mein Lachen, in Fröhlichkeit mein Saitenspiel; (…) im Durst soll’s sein mein Wasserquell, in Einsamkeit mein Sprachgesell zu Haus und auch auf Reisen.“ Das klingt gar nicht mehr nach Passionslied? Ist es aber: Jesu Kreuz wird Dreh- und Angelpunkt eines Glaubens, der weiß, dass Gott gnädig ist.
So wie bei Paul Gerhardt werden auch in anderen alten Passionsliedern Glaubensthemen angesprochen, die sich bei genauerem Hinsehen anhören, als kämen sie direkt aus dem Katechismus des modernen Christen. So wie die Fragen nach Schuld und Verrat, die aus unserem Leben keineswegs verschwunden sind. Dabei wird das Kreuzesgeschehen häufig, aber nicht ausschließlich als Opfer für unsere Sünden interpretiert. In dem Gerhardt-Lieb „O Welt, sieh hier dein Leben am Stamm des Kreuzes schweben“ (eg 84) etwa heißt es „Du nimmst auf deinen Rücken die Lasten, die mich drücken viel schwerer als ein Stein; du wirst ein Fluch; dagegen verehrst du mir den Segen …“ (Strophe 5). Jesus ist der, dem wir abgeben können, was wir nicht tragen können. Auch das ist Kreuzestheologie.
Was ebenfalls auch in unserer Zeit aktuell bleibt, ist das Staunen über das, was Gott tut. So fortgeschritten wir in den Wissenschaften sind – auch in der Theologie – im Vergleich zur Entstehungszeit der Gesangbuchlieder, so bleibt doch das, was am Kreuz geschieht, unserer Vernunft letztlich verschlossen. Daher können wir auch heute noch durchaus einstimmen, wenn Johann Heermann dichtet: „Ich kann’s mit meinen Sinnen nicht erreichen, womit doch dein Erbarmung zu vergleichen …“ (eg 81,8, „Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen“). Und es geht uns wie Christian Fürchtegott Gellert: „Welch wundervoll hochheiliges Geschäfte! Sinn ich ihm nach, so zagen meine Kräfte, mein Herz erbebt; ich sehe und empfinde den Fluch der Sünde.“ (eg 91,3).
Gerechtigkeit und Liebe zwischen Tod und Leben
Was Gellert so zagen lässt, ist das Paradox, dass Gott zwei widersprüchliche Seinszustände gerade im Kreuz miteinander vereint. „Gott ist gerecht, ein Rächer alles Bösen; Gott ist die Lieb und lässt die Welt erlösen …“ (eg 91,4). Oder, noch einmal Paul Gerhardt: „Dein Kampf ist unser Sieg, dein Tod ist unser Leben; in deinen Banden ist die Freiheit uns gegeben. Dein Kreuz ist unser Trost, die Wunden unser Heil, dein Blut das Lösegeld, der armen Sünder Teil“ (eg 87,3, „Du großer Schmerzensmann“).
Zum Glück gilt: Wo die Vernunft versagt, bietet das Singen einen Zugang zu diesem Wunder. Wir betrachten in den Liedern Jesu Leidensweg, bestaunen Gottes Handeln – und sehen uns selbst darin als Menschen, die aus Liebe erlöst werden. Was genau geschieht, das bleibt uns verborgen. Aber indem wir bewundern, loben und danken, staunen und annehmen, kommen wir dem Geheimnis Gottes, der sich auch im Kreuz offenbaren will, nah. Gerade die alten, sperrigen, manchmal unzumutbar scheinenden Choräle können uns diesen Blick neu öffnen. Geben wir ihnen eine Chance.
