Wer im Kinderheim der Nachkriegszeit großgeworden ist, hatte es schwer. Er oder sie galt per se als verwahrlost – und bekam kaum Bildung. Auch darunter leiden viele lebenslang. Eine Autorin klärt auf.
Journalistin und Autorin Christiane Florin bezeichnet “Klassismus” als “blinden Fleck der Missbrauchsdebatte”. Dem katholischen Internetportal “kirche-und-leben.de” sagte sie am Dienstag: “Das Heim war damals ein großes Stigma für die dort untergebrachten Kinder und Jugendlichen.” Vielen sei Bildung vorenthalten worden. Das sei eines der Rechercheergebnisse ihres neuen Buches “Keinzelfall. Wie Heinz ein katholisches Heim überlebte”. Florin ist überzeugt: “Viele Leben hätten anders verlaufen können, wenn die Kinder angemessen gefördert worden wären.”
Diesen Klassismus sieht Florin durch öffentliche Debatten verstärkt. Betroffene Heimkinder würden kaum in Talkshows oder zu Pressekonferenzen eingeladen, “sie formulieren oft nicht so konsumierbar”. Auch sei es für oftmals nur wenig gebildete Heimkinder besonders schwer, wenn sie Unterstützung beantragen, Post in Behördendeutsch zu verstehen.
In ihrem neusten Buch gibt Florin einem Heimkind unter dem Pseudonym “Heinz” eine Stimme. Menschen wie Heinz könnten mit dem theologisch-wissenschaftlichen Jargon, der Gewalt und Willkür verweichliche, nicht viel anfangen. “Er spricht ohne Umschweife über seine Erlebnisse und seine Vorstellung von Aufarbeitung”, sagt Florin. Diese Klarheit schockiere und störe viele. So kämen Heimkinder in der Öffentlichkeit kaum vor.
Zur Geschichte des Buches erklärte Florin, Heinz selbst habe sich an sie gewandt und ihr seine Leidensgeschichte erzählt. “Ich dachte kurz darüber nach, ob ich mich selbst schon ausreichend mit Heimkindern beschäftigt habe und wie es mit der Studienlage aussieht. Und ich stellte fest: Diese Geschichten sind zu wenig erzählt worden. Wir haben uns also getroffen.”
Im Folgenden berichtete Heinz ihr von seinem Kampf ums Überleben im Heim – angesichts von sexuellem Missbrauch, Sadismus, Demütigungen und völliger Willkür, der er schutzlos ausgeliefert war. Und von dem lebenslangen Kampf in seinem Inneren – nach dem Heim. Florin recherchierte seine Lebensgeschichte und legte Informationen über Kinderheime in der Nachkriegszeit und die Aufarbeitungsgeschichte dazu.