Das Gehirn schläft nie

Männer träumen von Sex, Frauen von Klamotten. Kinder dagegen träumen öfter von Tieren. Warum das wirklich so ist, was wir aus unseren Träumen lernen und warum sie lebensnotwendig für uns sind – damit befasst sich Traumforscher Michael Schredl: Jeder Mensch träumt von den Dingen, mit denen er sich beschäftigt

Er ist Deutschlands bekanntester Traumforscher: Professor Michael Schredl. Er ist Psychologe und wissenschaftlicher Leiter des Schlaflabors des Mannheimer Zentralinstituts für seelische Gesundheit. Er hat seinen Traum-Beruf gefunden und schreibt seit über 30 Jahren seine eigenen Träume auf. Mit Claudia Dinges sprach er über seine Arbeit.

• Seit mehr als 30 Jahren schreiben Sie Ihre Träume auf. Insgesamt 14 300 Träume sind das bisher, wie machen Sie das genau?
Die werden morgens ganz klassisch in ein Tagebuch geschrieben. Mich interessiert vor allem der kreative Aspekt der Träume, wie sich eben psychische Themen, die mich aktuell beschäftigen, in interessanten Bildern darstellen. So werte ich zum Beispiel aus, wie häufig meine Brille im Traum vorkommt. Das ist sehr spannend, weil das ja eine sehr alltägliche Geschichte ist, ‘ne Brille zu tragen. Nur im Traum kommt sie tatsächlich sehr selten vor – und wenn sie vorkommt, dann kommt sie eben nicht im alltäglichen Zusammenhang vor; man träumt nicht, ich setze die Brille ab und geh jetzt ins Bett, sondern da ist dann ein Bösewicht, der die Brille kaputtmachen will.

• Was sagt jetzt zum Beispiel das Brillenthema über Sie aus?
Wissenschaftlich gesehen träumen wir sehr selten über Dinge, die tägliche Routine sind. Wenn, dann muss es eine emotionale Qualität haben, sprich: Meine Traum-Brillen-Geschichte war dann der Ausdruck für ein anderes Thema, eine Auseinandersetzung mit einer Person.

• Was haben Sie letzte Nacht geträumt?
Heute war eine sehr ungewöhnliche Nacht, denn ich hab mich nicht an den Traum erinnert!

• Wie konnte das passieren?
Das lag an der kurzen Schlafzeit unter sechs Stunden. Es ist so, dass die gewohnte Schlafzeit wenig Effekt an die Traumerinnerung hat. Wenn man aber mal kürzer oder länger schläft, dann erinnert man sich weniger oder mehr. Und unser Aufwachvorgang kann bis zu 15 Minuten dauern, sodass Trauminformationen verloren gehen können. Sprich, was schaffe ich vom Traumzustand in den Wachzustand mit rüberzunehmen.

• Was läuft im Gehirn ab, wenn ich träume?
Das Gehirn läuft, und das tut es auch während des Schlafens. Das ganze Gehirn ist am Traum beteiligt, also das Sprachzentrum, das motorische Zentrum, Vorstellungs-, Gefühls- und Emotionszentrum.

• Unser Gehirn schläft nie?
Genau. Das ist auch sinnvoll, genauso wie beim Herz, das sollte auch nie schlafen. Das Gehirn ist zwar im Schlaf mal ein bisschen weniger aktiviert, manchmal mehr, ist aber nie abgeschaltet.

• Träume – haben die immer eine Bedeutung, oder sind sie manchmal einfach auch nur wirres Zeug?
Es ist tatsächlich so, dass die Trauminhalte sehr stark damit zusammenhängen, was wir tagsüber erleben oder auch früher erlebt haben, denn Träume können auch zurückgreifen. Wichtig ist, dass man schaut, wie man selbst im Traum handelt oder fühlt, dann jeder Traum hat mit einem selbst zu tun.

• Es heißt ja, dass Träume auch beim Problemlösen helfen. Das wäre ziemlich praktisch – ich hab ein Problem, nehme mir vor, darüber zu träumen, und wache dann mit der Lösung auf!
Kann funktionieren, aber leider nur sehr selten. Studien zeigen, dass Themen aufgegriffen werden, die einen beschäftigen. Und der Traum kann dann eine kreative Lösung anbieten. Wenn man mehr aus dem Traum rausziehen möchte, dann rate ich dazu, den Traum nachträglich zu bearbeiten.

• Wie sieht so eine Nachbearbeitung ganz konkret aus?
Die Grundidee ist, zu schauen, was der Traum mit mir zu tun hat. Und was mit dem Problem? Das Spannende ist ja am Traum, dass er nicht 1:1 meine Realität widerspiegelt. Beispiel: Wenn ich ein Problem mit dem Chef habe, dann sitze ich im Traum nicht vor dem Chef und diskutiere mit ihm, sondern das wird sehr kreativ umgesetzt, es gibt andere Blickwinkel. Oder Sie nehmen den Traum als Ausgangssituation und überlegen sich: Was möchte ich gerne? Sie können auch in den Traum zurückgehen und überlegen: Wie möchten ich die Situation regeln? Träume haben den Vorteil, dass Sie im geschützten Raum lernen. Es ist eine gute Übung für die Realität, etwas anders zu machen. Und zu überlegen, ob ich andere Menschen brauche, die mir helfen.

• Träumen Frauen anders als Männer?
Sie haben andere Trauminhalte. Das liegt daran, dass sie sich tagsüber auch mit anderen Dingen beschäftigen. Also in Träumen von Frauen kommt Kleidung häufiger vor. Und von Sex träumen die Männer mehr. Wobei wir da Studien gemacht haben und es nicht mehr sexuelle Aktivität widerspiegelt, sondern mehr sexuelle Phantasien am Tage. Sprich: Männer träumen häufiger von Sex, weil sie auch tagsüber häufiger daran denken.

• Wie sieht’s denn aus mit den Träumen bei Kindern im Vergleich zu Erwachsenen-Träumen?
Da gibt es ganz unterschiedliche Traumthemen. Ganz deutlich wird es bei Tieren im Traum. Bei Erwachsenen kommen Tiere unter 10 Prozent vor, bei Kindern können Tiere bis zu 50 Prozent in den Träumen auftreten. Klar, denn Kinder hören Tiergeschichten, haben Stofftiere, das heißt, da ist das Thema Tier und Haustier, Interesse für Tiere, Bedrohung durch Tiere ganz anders als beim Erwachsenen.

• Was sind Albträume?
Albträume sind stark negative Träume, in denen meistens Angst, aber auch Wut, Ärger, Trauer, Ekel vorkommen können und diese Emotion so stark ausgeprägt ist, dass man davon aufwacht. Albträume haben fast alle Menschen schon mal gehabt in ihrem Leben. Die Erklärung für Albträume: Es gibt tatsächlich Menschen, die eine Veranlagung für Albträume mitbringen. Also kreative, sensible Personen neigen eher zu Albträumen. Und je mehr Stress, umso mehr Albträume. Bei Albträumen ist es sehr wichtig, sich mit den Albtraumthemen auseinanderzusetzen und dann wieder den kreativen Ansatz zu wählen: Wenn ich in einem Albtraum stecke, wie komm ich da wieder raus, was hilft mir da?

• Beschäftigen Sie sich in Ihrer Forschung auch mit Menschen, die prophetisch geträumt haben?
Ja, wir haben dazu mal unsere Psychologie-Studenten befragt, wie häufig das vorkommt. 50 Prozent haben gesagt, dass sie schon mal so einen prophetischen Traum hatten. Uns hat dann interessiert, wie sie damit umgehen. Mich hat vor zwei Jahren mal ein junger Mann angerufen, der geträumt hatte, dass er im Traum erschossen wird. Er hatte tatsächlich eine Angststörung entwickelt. Für mich als Wissenschaftler ist viel wichtiger, wie Menschen mit solchen Träumen umgehen, und nicht, ob es sie gibt.

• Zum Thema „Träume in der Bibel“: In vielen Geschichten redet Gott in Träumen mit den Menschen. Sind wir in Träumen besonders offen für Gottes Wort?
Also erst mal ist wichtig zu erwähnen, dass die Bibel aus Geschichten besteht. Es sind keine Augenzeugenberichte. Es ist tatsächlich so, dass in vielen Religionen Träume eine Rolle spielen. Aber auch hier ist es so, dass Menschen, die sich in ihrer Realität mit Gott auseinandersetzen, auch von ihm träumen.

• Welche Antworten erhoffen Sie sich noch in der Traumforschung?
Wir machen aktuell eine Studie zum Erzählen von Träumen im Alltag. Warum werden Träume erzählt? Hilft das? Wird die Beziehung dadurch intensiviert? Es gibt eine amerikanische Studie, in der Paare angeleitet wurden, sich gegenseitig Träume zu erzählen, und dadurch ihre Beziehungsqualität verbessert haben. Außerdem haben wir in einer Studie den Einfluss von externen Reizen auf den Traum untersucht. Mit Geruchsreizen. Gerne möchte ich eine Studie zum Einfluss von Musik durchführen. Also nachts Musik vorspielen und dann schauen, wie die Träume beeinflusst werden.