Das Geheimnis der Kugel

Was ist eigentlich drin in der Zeitkapsel einer Kirche? In der St.-Thomas-Kirche in Hamburg wissen sie das jetzt – nach 66 Jahren.

Vorsichtig öffnet ein Arbeiter die Kapsel
Vorsichtig öffnet ein Arbeiter die KapselJohanna Tyrell

Hamburg. Das Kreischen einer Kreissäge durchschneidet den Novembervormittag. Auf der Wiese hinter der St.-Thomas-Kirche in Hamburg haben sich rund zwei Dutzend Menschen versammelt und blicken gespannt zu Boden. Vor ihnen im Gras liegt etwas, was entfernt an eine über­dimensionale mittelalterliche Lanze erinnert: die Zierkugel. 68 Jahre zschmückte sie das Kirchenschiff der St.-Thomas-Kirche. Nun wurde sie im Rahmen­ der laufenden Sanierungsmaßnahmen demontiert.

Mario Zurik, Klemptnermeister bei der Dachdeckerfirma D.H.W. Schulz und Sohn, hat inzwischen die Zierkugel geöffnet und eine metallene Rohrhülse herausgezogen. Wieder ertönt Sägeblatt auf Metall. Endlich ist es soweit, die Hülse ist offen. Eine Rolle Papier kommt zum Vorschein.

Ein 66 Jahre alter Brief

„Albert Ripakowitz – das sagt mir doch etwas …“, sagt Sybille Rehder und blickt auf den braunen Umschlag, auf den der Name gestempelt wurde. Seit 1992 arbeitet sie in der Bauabteilung des Kirchenkreises Hamburg-Ost. Und auch wenn es nicht ihre erste Kugelöffnung ist, der sie beiwohnt – spannend ist es auch für sie. Darin ein handgeschriebener Brief, an dem die Zeit spurlos vorbeigegangen zu sein scheint. Datiert auf den 5. April 1956. „Nach vollbrachter Arbeit krönen wir heute unser Werk durch Aufbringung dieser vergoldeten Kupferkugel. Diese Kirche wurde 1943 durch Bomben zerstört und im Jahre 1956 wieder aufgebaut“, heißt es darin. Daneben die Osterausgabe 1956 des Hamburger Abendblatts.

In der Kapsel gefunden: die Oster-Ausgabe 1956 des Hamburger Abendblatts
In der Kapsel gefunden: die Oster-Ausgabe 1956 des Hamburger AbendblattsJohanna Tyrell

Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb von der ursprünglichen Kirche nur noch der Schafft des Turmes erhalten. Er erhielt einen neuen Helm – passend zum 1956/57 errichteten achteckigen Kirchenschiff. Doch obwohl das Dach noch nicht wirklich alt ist, drang in den vergangenen Jahren Wasser ein. Die Dacheindeckung war am Ende ihrer Lebensdauer angelangt. „Normalerweise hält so ein Kupferdach locker über 100 Jahre“, so Klemptnermeister Marcus Deckerdt.

Und wie geht es nun weiter? Die Kugel wird in den kommenden Wochen, wenn der erste Teil der Sanierung abgeschlossen ist, wieder ihren Platz auf der Thomaskirche finden. Gefüllt mit der alten Hülse. Dazu wird die Gemeinde aber auch Zeugnisse der aktuellen Sanierungsmaßnahmen hinein legen: „Das Maßnahmenkonzept, eine Tageszeitung, ein handgeschriebener Brief, ein Centstück, ein Gemeindebrief – ich glaube, wir müssen eine etwas größere­ Hülse nehmen“, sagt Pastorin Cornelia Blum und lacht. Im Frühsommer 2023 folgt dann die Turmsanierung.

Kein Grün – wegen sauberer Luft

Bis das Dach wieder seine grüne Farbe hat, wird es noch 50 Jahre dauern. „Das hat etwas damit zu tun, dass die Luft heute sauberer ist als in den 50er- und 60er-Jahren“, erklärt Bauleiter Jan Slejhar. „Außerdem ist heute das Material nicht mehr so rein“, fügt Klemptnermeister Marcus Deckerdt hinzu. Das läge daran, dass altes Material immer wieder eingeschmolzen mit anderen Metallen gemischt würde. „Dadurch wird es zwar nicht mehr so schnell grün, ist aber auch stabiler.“

Für beide Bauabschnitte rechnet die Gemeinde mit Gesamtkosten von rund 1,1 Millionen­ Euro. Finanziert wird diese Summe neben Fördermitteln des Bundes und des Kirchenkreises Hamburg Ost durch Spenden. „Gerade jetzt während der Sanierungsarbeiten merken wir, wie groß die Verbundenheit der Menschen hier im Stadtteil zu ihrer Kirche ist“, erzählt Blum. In einem kleinen Modell­ der Kirche sammelt die Gemeinde Spenden. Und etwas Besonderes hat sich die Gemeinde für die Spender ausgedacht. Künftig sollen aus dem Altkupfer des Daches Engel entstehen, die die Spender als Dank erhalten. Und vielleicht wird auch einer dieser Engel seinen Platz in der Kugel finden.