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Das Duell von Unna

Schlägerei in der Kirche – so doll trieben es Lutheraner und Calvinisten in Unna. Und dann kam Philipp Nicolai

Es gibt zwei Kirchenlieder, die nahezu jeder kennt. „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ das eine. Das andere: „Wachet auf, ruft uns die Stimme“. Gedichtet wurden sie um 1598 von dem damaligen Pfarrer der Unnaer Stadtkirche, Philipp Nicolai.
Dieser Philipp Nicolai galt als einer der berühmtesten Pfarrer seiner Zeit. Das lag nicht an seinen Liedern. Sondern an den religiösen Streitschriften, in denen der glühende Lutheraner vehement den Calvinismus bekämpfte.
Unna, um 1590. Schwere Auseinandersetzungen toben. Erst zwischen römisch-katholischer Lehre und der neuen Lehre der Reformation. Dann, fast noch heftiger, innerhalb der Reformation zwischen Lutheranern und Calvinisten.
Vordergründig geht es um die Abendmahlsfrage. Luther, in dieser Frage durchaus in katholischer Tradition, wollte der Abendsmahlsfeier weiter Heilscharakter zubilligen. Er vertrat zwar nicht mehr die sogenannte Transsubstantiationslehre, nach der sich Wein und Brot direkt in Blut und Leib Christi verwandeln, lehrte jedoch, dass sich Wein und Brot durch die Einsetzungsworte auf geheimnisvolle Weise damit verbinden. Für Calvin war sie dagegen reine Symbolhandlung.
Einige Kaufleute und ein Teil des Rates um den Altbürgermeister Ernst Brabender wünschten 1592 eine enge Anlehnung an die Niederlande, die damals den Welthandel kontrollierten und wirtschaftlich in Blüte standen. Man wollte deshalb die Stelle des Vizepastors mit dem Rotterdamer Pfarrer Hermann Grevinckhoff besetzen, der Calvinist war.
Der zuständige Abt von Deutz jedoch lehnte diese Berufung ab. Stattdessen wollte er den jungen Lutheraner Joachim Kersting auf die Stelle haben. Die calvinistische Fraktion hielt dagegen und wollte nun den aus Essen stammenden Magister Berger.
Der ließ, in strenger calvinistischer Tradition, sofort die Bilder aus der Stadtkirche entfernen. Nun kam es in der Stadtkirche zum berühmten Zweikampf.
Altbürgermeister Brabender gab die Anweisung, den Lutheraner Kersting auf keinen Fall auf die Kanzel zu lassen. Während draußen die Lutheraner gegen die verschlossenen Kirchentüren trommelten, kämpfte Kersting drinnen einen heroischen Kampf. Es war ihm gelungen, sich am Aufgang zur Kanzel festzuklammern, und so sehr Berger auch zerrte, riss und schimpfte, Kersting ließ nicht los. Der Mantel wurde ihm dabei zerrissen.
Kersting verteidigte die Kanzel, die auch sein Gegner nicht besteigen konnte, bis die Lutheraner sich über eine Seitentür Zutritt verschaffen konnten und Berger mitsamt Helfern vertrieben.

Philipp Nicolai: Das muss der richtige Mann sein

Die Lutheraner wollten ihren Sieg festigen. Unnas neuer Bürgermeister mit dem Namen von Westfalen hatte gehört, dass es da einen Prediger gab, der in der waldeckschen Landessynode calvinistische Irrlehrer exkommunizieren ließ: Philipp Nicolai. Der hatte die Streitschrift „Nothwendiger und gantz vollkommener Bericht von der gantzen calvinistischen Religion“ verfasst. Wenn das nicht der richtige Mann für Unnas Lutheraner war …
Nicolai lässt sich überreden, kommt nach Unna. Aber dort wartet schon der Tod.
Über Nacht bricht die Pest aus. Die religiösen Streitfragen spielten plötzlich keine Rolle mehr. Nicolai geht zu den Sterbenden, spricht ihnen Trost zu. Bis zu 30 Beerdigungen am Tag muss er halten,
Nicolai selbst fürchtet die Pest nicht. Er vertraut seinem Gott und fährt zu einer Apotheke nach Dortmund, um sich Medizin zu besorgen.
Wie kann man die allgegenwärtige Todesgefahr, den vergeblichen Kampf gegen den Tod, den Zuspruch des Trostes für Hunderte von Sterbenden psychisch durchstehen? Nicolai schafft es, indem er am Tage unermüdlich seine Pflicht tut und sich abends in den erlösenden Trost der himmlischen Herrlichkeit rettet. Während immer mehr Menschen der Pest erliegen, schreibt er seinen „Freudenspiegel“ als Trost für die Sterbenden und Hinterbliebenen, als Stärkung aber auch für sich selbst. Darin enthalten: seine berühmt gewordenen Lieder.

Zuversicht in Leid und Tod

„Wie schön leuchtet der Morgenstern“ ist ebenso wie „Wachet auf“ entstanden unter dem Eindruck des nahen Endes des Welt. Nicolai hatte das Kommen des Gottesreiches genau vorausberechnet, auf das Jahr 1670. Dieses Denken ist spätestens seit der Aufklärung überwunden. Trotzdem erringen Nicolais Lieder andauernde Bedeutung. Glaubensstärke und Zuversicht, Optimismus angesichts von Tod und Krankheit (in den Liedern metaphorisch ausgedrückt durch die Überwindung von Nacht und Schlaf) sprechen die Menschen auch heute an.
Philipp Nicolai folgte 1601 einem Ruf als Hauptpastor an der Katharinengemeinde in Hamburg. Dort schrieb er weitere 17 Abhandlungen. Aber schon 1608, im Alter von 52 Jahren, stirbt er. Auf dem Katharinenfriedhof vor dem Dammtor ist er beigesetzt.
Und Unna?
Dort einigte man sich schließlich darauf, dass die Stadtkirche den Lutheranern gehören soll und die Calvinisten ihre Gottesdienste im ehemaligen Hospital der Stadt feiern können. Heute nennt die evangelische Kirchengemeinde sich „Offene Stadtkirche Unna“, sie ist täglich geöffnet und kann besichtigt werden.