„Da liegen tote Menschen“

Auf Friedhöfen können Kinder einen natürlichen Umgang mit dem Sterben lernen. Mitten unter Engel-Figuren, Efeu und geschmückten Gräbern lassen sich schwierige Fragen leichter beantworten.

Die Kunsthistorikerin Anja Kretschmer gibt eine Führung für Kinder über den Stadtfriedhof Göttingen
Die Kunsthistorikerin Anja Kretschmer gibt eine Führung für Kinder über den Stadtfriedhof GöttingenHarald Wenzel / epd

Göttingen/Kassel. Buntes, Zentimeter dickes Laub raschelt unter den Füßen. Die 20 Kinder halten vor einem schwarz polierten Marmor-Stein. Buchstaben leuchten darauf in Gold. „Weiß einer von euch, was ein Grab ist?“, fragt Anja Kretschmer. „Da liegen tote Menschen“, antwortet ein sechsjähriger Junge. Die promovierte Kunsthistorikerin Kretschmer beschäftigt sich seit ihrem Studium mit der Bestattungskultur. Unter dem Motto „Friedhofsgeflüster“ bietet die Rostockerin Führungen für Erwachsene in ganz Deutschland an. An diesem Tag führt sie auf dem Stadtfriedhof in Göttingen erstmals Kinder.

Der Friedhof biete einen guten Ort, um Kinder auch spielerisch an Themen wie Tod und Trauer heranzuführen, sagt Kretschmer. Während der Tour fordert sie die Mädchen und Jungen auf, vor allem auf Details zu achten. Sie sollen zum Beispiel alle Frauenfiguren zählen, denen sie unterwegs begegnet sind. „Wann stirbt man denn so?“, fragt Kretschmer wie nebenbei. „Wenn man ganz, ganz, ganz, ganz, ganz, ganz alt ist“, antwortet ein kleiner Junge. „Das stimmt nicht immer“, widerspricht das Mädchen neben ihm.

Trauern – eine gesunde Reaktion

Friedhofsführungen für Kinder gibt es bereits seit 2007 in Stahnsdorf bei Berlin und mittlerweile unter anderem auch in Köln oder Kassel. Seit 2013 bildet das Kasseler Zentralinstitut für Sepulkralkultur (Trauer- und Begräbniskultur) einmal jährlich 10 bis 15 Friedhofsverwalter, Pfarrer und Lehrer sowie andere Interessierte aus ganz Deutschland eigens für die Kinderführungen fort. Solche Angebote vermittelten Kindern, dass Sterben und Trauern natürliche Bestandteile des Lebens sind, sagt Dagmar Kuhle vom Institut. Sich während einer Führung über Gräber, Blumen oder Grabzeichen zu unterhalten, bringe den Kindern bei, über den Tod zu sprechen, wie über anderes auch.

Cordula Caspary, Bestatterin aus Bremen, rät Eltern, frühzeitig damit anzufangen. „Niemand muss vor Trauer beschützt werden“, erläutert die ausgebildete Kulturwissenschaftlerin. Trauer sei eine gesunde Reaktion auf Verlust.

„Was bedeutet es denn, tot zu sein?“, fragt Anja Kretschmer die Mädchen und Jungen, die gerade um eine verzierte Grabstätte im Gras hocken und sie aufmerksam inspizieren. „Man muss gar nichts mehr machen“, kommt eine Antwort aus der Runde. Die Kinderstimme klingt dabei gönnerhaft, fügt jedoch nach kurzer Pause hinzu: „Man muss aber auch nicht mehr essen und trinken.“

„Alles Gute, lieber Hans!“

Die neunjährige Lea und ihre sechsjährige Schwester Lina sind zum ersten Mal auf einem Friedhof. Zusammen mit der Mutter und Großmutter sind sie eigens dafür aus Nörten-Hardenberg bei Northeim gekommen. Edeltraud, die Mutter, durfte als Kind die Bestattung ihrer Oma nicht besuchen. „Als mein Opa starb, war ich fast dreißig“, erzählt sie. „Es war meine erste Beerdigung und deshalb für mich furchtbar.“ Sie wolle die zwei Mädchen vor einer derartigen Erfahrung bewahren.

Die 39-Jährige erzählt, dass Lea ihrem Onkel nach seinem plötzlichen Tod im vergangenen Jahr einen Brief schrieb. „Lieber Hans“, stand darin: „Ich wünsche dir da, wo du jetzt bist, alles Gute. Und ich hoffe, du hast es auch so gut und schön im Himmel, wie du es hier hattest.“ Edeltraud schießen Tränen über die Wangen, während sie frei aus der Erinnerung zitiert. „Und dass die Engel auf dich aufpassen.“ Die Tante habe sich den Brief eingerahmt. (epd)