“Da ist schon ein wahnsinniger Druck drauf”
Vor 15 Jahren, am 10. November 2009, nahm sich Nationaltorwart Robert Enke das Leben. Der Fußballer von Hannover 96 litt weitgehend unbemerkt an einer Depression. Doch seine Krankheit verbarg er jahrelang vor der Öffentlichkeit. Der Suizid des damals 32-Jährigen wühlte eine ganze Nation auf und brachte das Thema Depression für einige Zeit ganz nach oben in die Schlagzeilen. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) beschreibt der Psychiater Marc Ziegenbein wie sich die Erkrankung bei Sportlern auswirkt und was sich seit Robert Enkes Tod verändert hat. Ziegenbein ist Ärztlicher Direktor des Wahrendorff Klinikums, eines Fachkrankenhauses für Psychiatrie und Psychosomatik in Köthenwald bei Hannover. Er arbeitet eng mit der Robert-Enke-Stiftung zusammen.
epd: Herr Professor Ziegenbein, wie zeigt sich eine Depression bei Leistungssportlern?
Ziegenbein: Es gibt ganz unterschiedliche Symptome. Manche bemerken, dass sie rascher ermüden oder erschöpft sind. Betroffene berichten auch, dass ihre Stimmung schlechter wird und dass es ihnen deutlich schwerer fällt, sich zu motivieren.
epd: Ist den Sportlern klar, dass es sich dabei um eine Depression handeln könnte?
Ziegenbein: Nein, da geht es den Sportlern genauso wie anderen Menschen. Sie vermuten erst einmal eine körperliche Ursache. Erst später entsteht allmählich die Erkenntnis: Vielleicht gibt es noch etwas dahinter.
epd: Was raten Sie Sportlerinnen und Sportlern, wenn sie solche Symptome an sich bemerken?
Ziegenbein: Als erstes sollten sie den Rat von Vertrauten oder Angehörigen einholen, mit denen sie sich offen austauschen können. Das sollte man nicht unterschätzen, das kann hochwirksam sein. Vielleicht gibt es im Verein auch einen Psychologen oder eine Psychologin. Die haben natürlich oft einen anderen Ansatz, können aber auch weiterhelfen. Wenn all das nicht zu einer Veränderung führt, sollte ein psychiatrischer Fachmann oder eine Fachfrau hinzugezogen werden. Das ist immer ein mutiger Schritt. Vielleicht ist es für jemanden, der im Rampenlicht steht, noch schwieriger.
epd: Kann denn speziell im Sport der permanente Leistungsdruck und Konkurrenzkampf dazu beitragen, dass jemand eine Depression bekommt?
Ziegenbein: Diese Einflussgrößen können natürlich eine Rolle spielen. Das Publikum erwartet ja, dass ein Sportler alles gibt. Da ist schon ein wahnsinniger Druck drauf, der auch von den Sportlern auf sich selbst ausgeübt wird. Aber wenn wir genau hinschauen, finden sich oft komplexe Konstellationen. Da können auch noch private Belastungen dazukommen. Es kann etwas in der Biografie geben. Es ist also nicht allein der sportliche Druck. Sport-Systeme definieren sich nun mal über Leistung und funktionieren auch so. Wenn man sagt, dass sie nur schlecht sind, stellt man natürlich das ganze System infrage.
epd: Würden Sie einer betroffenen Person empfehlen, sich zu outen?
Ziegenbein: Aus ärztlicher Sicht wünsche ich mir natürlich, dass seelische Erkrankungen in der Gesellschaft genauso akzeptiert werden wie ein Beinbruch. Ich bin mir aber immer noch nicht sicher, ob dieses Outen die Akzeptanz erfährt, die man sich wünschen würde. Ich fürchte, dass es in vielen Fällen immer noch Nachteile und Repressalien gibt, wenn jemand eine psychische Erkrankung öffentlich macht. Da sind wir noch immer nicht so weit, wie wir uns es wünschen.
epd: Sollte er zumindest in seinem Club die Verantwortlichen persönlich ins Vertrauen ziehen?
Ziegenbein: Das kann hilfreich sein. Aber es hängt davon ab, wie die jeweilige Situation ist. Es gibt Clubs, die sich inzwischen total gut auf solche Fragen eingestellt haben. Aber es gibt sicherlich auch noch Vereine, die sich sehr schwer damit tun.
epd: Kann ein Leistungssportler, der an einer Depression erkrankt ist, überhaupt noch seine sportliche Leistung bringen?
Ziegenbein: Depressive haben immer noch einen sehr hohen Anspruch, Dinge perfekt zu machen. Oft ist die Leistung eine Zeit lang weiter auf einem sehr hohen Niveau. Wenn es allerdings zu deutlichen Einschränkungen kommt, so dass sie für ihre Leistungen nochmal mehr kämpfen müssen, als sie es ohnehin schon tun, sinkt die Leistungsfähigkeit. Mit einer angemessenen therapeutischen Begleitung kann man jedoch die Leistungsfähigkeit wieder erreichen, wie sie vorher war.
epd: Sollte ein Sportler, der an einer Depression leidet, lieber seine Karriere beenden?
Ziegenbein: Das würde ich eher verneinen. Grundsätzlich lässt sich die Erkrankung gut behandeln. Bei ganz vielen Betroffenen wäre es sehr gut möglich, weiter supererfolgreich unterwegs zu sein. Die Frage ist: Wird es dem Sportler gelingen, mit therapeutischer Hilfe die Stressfaktoren ausfindig zu machen und besser damit umzugehen? Es kann natürlich sein, dass es einen Punkt gibt, wo er merkt: Die Kernanforderungen dieses Sportes sind für mich nicht mehr leistbar. Dann sollte man vielleicht über eine Verlagerung nachdenken, also darüber, die Kompetenzen irgendwo anders einzubringen.
epd: Hat sich denn aus Ihrer Sicht seit dem Tod von Robert Enke etwas zum Positiven geändert?
Ziegenbein: Gerade dank des Engagements der Robert-Enke-Stiftung ist es inzwischen selbstverständlicher geworden, über solche Erkrankungen zu reden. Und es sind Netzwerke gebildet worden, so dass jetzt Sportler in Deutschland niedrigschwellig und bei Bedarf anonym Kontakte und Behandlungsmöglichkeiten finden. Eine absolute Selbstverständlichkeit ist aber bislang noch nicht erreicht. Man darf nicht vergessen, dass das ein anstrengender und immerwährender Prozess ist.
epd: Was muss aus Ihrer Sicht noch passieren, damit Depressionskranken im Leistungssport noch besser geholfen werden kann?
Ziegenbein: Die Netzwerke müssen weiter ausgebaut werden. Und natürlich ist Aufklärungsarbeit wichtig. Die Sensibilität für Depressionen und die Informationen für Hilfsmöglichkeiten müssen von vorneherein in die Systeme des Sports wie auch in die gesamte Gesellschaft hinein. Wir brauchen mehr Akzeptanz und mehr Niederschwelligkeit. Natürlich wird ein Verein vielleicht sagen: Für uns ist der Sportpsychologe wichtig. Der soll die Leitung noch weiter optimieren. Aber warum gibt es nicht auch die andere Seite, so dass jemand hinschaut: Wie geht es unseren Sportlern eigentlich dabei?