Comicbilder gegen das Vergessen

Es steckt in den Eingeweiden, in den Nervenbahnen, in jeder Faser seines Körpers: Das Gefühl von Verlust, Angst und Einsamkeit, das den Holocaust-Überlebenden Ernst Grube sein Leben lang begleitet hat. Mit Zeichnungen von Zellen, Organen und fein verästelten Adern versucht die Berliner Illustratorin Hannah Brinkmann deshalb, zwischen den Erzählsträngen ihrer neuen Graphic Novel „Zeit heilt keine Wunden“ all das Unsagbare in Bilder zu fassen, was der heute 91-Jährige als jüdisches Kind in der NS-Zeit, aber auch als junger Kommunist in Westdeutschland nach 1945 erlebt hat. Ernst Grubes Urteil über das Buch steht schon kurz vor dem Erscheinungstermin Mitte November fest: „Dieser Comic ist mein Vermächtnis als Zeitzeuge.“

Die Idee zum Projekt stammte vom Münchner NS-Dokumentationszentrum, wo Grube seit Jahren für Gesprächsrunden zu Gast ist. Dort hat er lange vor allem über die Zeit bis 1945 gesprochen. „Weniger bekannt war sein Wirken als Friedensaktivist und Kommunist in der Nachkriegszeit“, sagt Denis Heuring, der den Bereich „Publikationen“ verantwortet. Brinkmanns Graphic Novel – die grafische Umsetzung eines komplexen Inhalts für ein eher erwachsenes Publikum – rücke Themen in den Fokus, die in der Bundesrepublik lange Zeit wenig Gehör fanden: Das systematische Verdrängen von NS-Verbrechen, die nahtlose Weiterbeschäftigung von Tätern und Mitläufern in Justiz und Behörden, die Verfolgung von Mitgliedern der 1956 verbotenen Kommunistischen Partei Deutschlands.

Die junge Künstlerin, die gerade mit dem ersten Dortmunder Comicpreis ausgezeichnet wurde, verknüpft in ihrem zweiten Buch die Geschichte des Überlebenden Ernst Grube mit der seines späteren Richters: Aus unzähligen Archivdokumenten rekonstruiert Brinkmann die Biografie des Juristen Kurt Weber, der im NS-Regime als Mitläufer bis zum Staatsanwalt und stellvertretenden Behördenleiter aufgestiegen war. Für diese Karriere hatte er manche Überzeugungen sowie die Beziehung zu der jüdischen Künstlerin Alice Droller geopfert, die später in Auschwitz ermordet wurde.

„Weber war kein klassischer Nazi, aber jede seiner Entscheidungen hat ihn tiefer ins NS-System geführt“, sagt die Illustratorin, die drei Jahre an dem Buch gearbeitet hat. Nach dem Krieg brachte der Jurist es bis zum Vorsitzenden Richter am Bundesgerichtshof der jungen BRD – wo er 1959 einen jungen Malermeister und Kommunisten aus München für eine Flugblattaktion als „Staatsgefährder“ zu einem Jahr Haft verurteilte.

Der Verurteilte war Ernst Grube, für den diese zweite Verfolgung ein übles Déjà-vu war: Neun Monate verbrachte er, der mit Glück das KZ überlebt hatte, in einem Bonner Gefängnis, vier davon in vollständiger Isolation. „Das war ein Gefängnis übelster Art, der Raum war vielleicht einen Meter breit, niemand durfte mit mir reden“, erinnert sich der Zeitzeuge. Das Gefühl des Verlassenseins, das sich schon dem ganz auf sich gestellten Zwölfjährigen im Ghetto Theresienstadt unter die Haut gegraben hatte, holte den nun 26-jährigen Vater eines kleinen Sohns wieder ein.

Das 260-Seiten-Werk erscheint im Avant-Verlag, der schon Brinkmanns preisgekrönten Erstling „Gegen mein Gewissen“ über einen Kriegsdienstverweigerer in den 1970er Jahren herausgebracht hat. „Comics fügen sich mit ihren ganz besonderen narrativen Möglichkeiten gut in das Spektrum der Erinnerungsarbeit ein“, sagt ein Verlagssprecher. Gerade bei der Aufarbeitung der Schoah stelle sich oft die Frage, ob und wie man dokumentarisches Bildmaterial einsetzen wolle. Eine Zeichnung könne dagegen, gerade weil sie nicht den Anspruch auf „Echtheit“ erhebe, „emotionale Wahrheiten besser abbilden“.

Bilder voller Freundschaft und Trauer, voller Überzeugung und Enttäuschung, voller Hoffnung und Verzweiflung: Ohne Ernst Grubes Offenheit könnte diese Graphic Novel nicht ihre Wucht entfalten. „Ich bin dankbar, dass ich seine Geschichte erzählen durfte“, sagt Hannah Brinkmann. Ernst Grube ist mit dem Format „Comic“ zufrieden: „Das Buch kann bei Jugendlichen Verständnis, Neugierde und Spannung wecken, und es gibt Pädagogen die Möglichkeit, damit zu arbeiten.“ Ins Gespräch zu kommen, das sei und bleibe sein Ziel von Erinnerungsarbeit, am besten über den Tod hinaus. Der Schmerz jedoch über all die ungelebten Leben seiner jüdischen Verwandten und Freunde, er ist im Alter zu ihm zurückgekehrt. „Ich merke jetzt“, sagt Grubes Comic-Ich im letzten Bild: „Zeit heilt keine Wunden.“ (00/3584/15.11.2024)