Coexister – Wie interreligiöses Zusammenleben funktionieren kann

Nahostkrieg, Flüchtlingskrise und andere Konflikte – die interreligiöse Bewegung Coexister geht dem nicht aus dem Weg. Sondern setzt ein Zeichen, wie Miteinander gelingen kann – und bekommt dafür den NRW-Ehrenamtspreis.

Sie kochen zusammen, spielen Fußball oder treffen sich zu Diskussionsabenden – so will die Jugendbewegung Coexister Menschen verschiedenster Religionen und Herkünfte in Kontakt bringen. “Wie können wir als Gesellschaft gemeinsam miteinander, anstatt nebeneinanderher leben; und miteinander statt übereinander reden?”, pointiert Vorstandsmitglied Sherin Ahmed die Idee von Coexister. Der Verein wird am heutigen Dienstagabend mit dem NRW-Ehrenamtspreis ausgezeichnet.

Coexister wurde 2009 in Frankreich gegründet, um sich für ein friedliches Zusammenleben einzusetzen. Nicht nur religiöse Menschen sind eingeladen, auch Atheisten und Agnostiker. In Deutschland ist Coexister jung – 2021 gegründet, hat der Verein bisher zehn aktive Lokalgruppen und rund 100 Mitglieder. “Wir erreichen aber deutlich mehr Menschen über die Aktivitäten in den Lokalgruppen und über Instagram”, sagt Ahmed. Und laut der 24-jährigen Muslimin wirkt das, was jede und jeder bei Coexister erfährt, auch darüber hinaus: “Ich kenne viele, die nur in ihren eigenen Familien oder Gemeinden bleiben. Dadurch, dass ich erzähle, dass ich beim jüdischen Schabbat oder beim Gottesdienst oder so war, animiere ich vielleicht auch andere, ihre Komfortzone zu verlassen.”

Carolin Hillenbrand hat den deutschen Verein mitgegründet und lebt in Köln. Am Beispiel ihrer Regionalgruppe erläutert sie die drei Säulen von Coexister. “Eine davon ist Dialog”, sagt die 31-jährige Katholikin. “Das heißt konkret, dass wir zum Beispiel gemeinsam Gotteshäuser besuchen und religiöse Feste feiern.” Der zweite Kernaspekt seien Solidaritätsaktionen. So habe die Gruppe Spielenachmittage für Kinder in Flüchtlingsunterkünften organisiert. “Typisch Coexister ist es auch, zusammen zu Blutspenden zu gehen. Das hat in Frankreich gestartet: Mit der Idee, dass durch uns alle, egal welche Religion, egal welche Herkunft, das gleiche Blut fließt.” Drittens gehen die Mitglieder in Schulen und versuchen Vorurteile abzubauen. “Wir wollen das weitergeben, was wir unter uns erleben”.

“Viele andere Gruppen sind immer gegen etwas: Gegen Rassismus, gegen dies, das”, sagt Hillenbrand. “Das sind wir natürlich auch, aber wir wollen ein positives Zeichen setzen, wie Zusammenhalt gelingen kann”. Manchmal trage das auch zu Integration bei. Sie erzählt von einem Mann, der vor zwei Jahren ganz neu in Deutschland war, keinerlei Deutsch konnte, und mit zum Vereinswochenende gefahren ist. Das diesjährige Wochenende habe er nun selbst für alle vorbereitet.

Helene Braun ist 26 und studiert jüdische Theologie in Potsdam. “Ich finde vor allem die niedrigschwelligen Angebote total wichtig, um sich kennen zu lernen” sagt die angehende Rabbinerin. Coexister will Analphabetinnen und Analphabeten genauso erreichen wie Akademikerinnen und Akademiker. “Außerdem habe ich noch nirgendwo sonst so erlebt, dass bei interreligiösem Dialog nicht nur an die drei monotheistischen Religionen gedacht wird.” Sie wisse jetzt aus erster Hand zum Beispiel mehr über das Jesidentum und die Bahai-Religion.

Religiöse Angebote sind Teil von Coexister, aber kein Zwang. Außerdem wird Wert darauf gelegt, Religiöses nicht zu verallgemeinern, weil innerhalb der verschiedenen Gemeinschaften die Diversität groß ist. “Wir haben zum Beispiel mal zu sechst einen muslimischen Impuls vorbereiten wollen und uns richtig gestritten, wie wir das machen”, sagt Ahmed.

Spannungsfrei ist das Zusammensein bei Coexister nicht. “Ich sehe das als gutes Zeichen, weil es zeigt, dass wir nicht zu homogen sind”, sagt Sherin Ahmed. Und Carolin Hillenbrand beschreibt die Streitkultur, die sich in den letzten Jahren entwickelt habe: “Manchmal gehen wir am Ende aus Diskussionen und das einzige, auf das wir uns einigen konnten, ist, dass wir nicht einig werden.” Trotzdem sei man danach nicht zerstritten, sondern merke, dass weiter eine Verbundenheit da ist, oft bei Alltagsaktivitäten wie Kochen.

Auch große Konflikte wie der Krieg in Nahost bleiben nicht außen vor. “Wir hatten nach dem 7. Oktober Diskussionen darüber, inwiefern wir uns öffentlich positionieren und wie wir mit bestimmten Meinungen in WhatsApp-Gruppen oder bei Insta umgehen – natürlich gibt’s bei uns sehr unterschiedliche Meinungen zu dem Krieg”, sagt Hillenbrand. Die Freiburger Studentin Ahmed ergänzt: “Ich glaube, das, was ich in Coexister gelernt habe, hilft mir auch in anderen Beziehungen. Wenn ich zum Beispiel sehe, dass Leute sich radikalisieren und problematische Sachen posten, dann versuche ich, die Beziehung zu erhalten, bin deshalb aber nicht unbedingt der gleichen Meinung”. “Eigentlich sagen wir gerade: Interreligiöser Dialog – jetzt erst recht!”, sagt Hillenbrand.

“Wer mitmachen will bei Coexister, braucht die Offenheit, sich einzulassen und andere Leute so zu akzeptieren, wie sie sind”, sagt Ahmed. Dazu gehöre auch, sich einzugestehen, dass man selbst eine subjektive Perspektive hat. “Das ist anstrengend”, sagt sie. “Zum Beispiel bei den Vereinswochenenden fordert es mich ständig heraus zu akzeptieren, dass andere Leute eine andere Meinung haben und dass man nicht immer auf einen gemeinsamen Nenner kommen muss.” Die Mühe sei es aber wert, “weil alle so warmherzig und neugierig sind und Menschen aufrichtig miteinander ins Gespräch kommen”.

Helene Braun ist es wichtig, dass Coexister nicht realitätsfern wahrgenommen wird: “Eher im Gegenteil”, sagt die Berlinerin. Bei Coexister werde nicht – wie sonst oft – Vielfalt lautstark gefordert, Menschen dann aber doch schnell abgewertet. Bei Coexister könne man offen alles und jeden fragen und zum Beispiel werde niemand in eine Ecke gestellt, weil er nicht wisse, was Gendern sei. “Alle können dabei sein, niemand muss sich für irgendwas blöd fühlen. Auch dass wir altersmäßig offen sind, finde ich schön. Zum Beispiel sind Familien mit Kindern dabei”.

Der Verein wächst, zur Freude der drei Frauen. “Hier funktioniert Weltfrieden im Kleinen”, sagt Hillenbrand. Und Ahmed ergänzt: “Wenn wir im kleinen Raum gutes Zusammenleben schaffen können, können wir es auch im Großen schaffen”.