Christus gibt keinen Menschen auf
Sie haben gemordet und viel Leid über andere Menschen gebracht. Mancher erschrickt über die Abgründe in seiner Seele. In der Gruppe „Langes Leben“ treffen sich ausschließlich Gefangene, die nicht wissen, ob und wann sie entlassen werden
Ich sehe Hände. Diese Hände haben gemordet. Sie haben zugestochen, geschossen, gewürgt und zerstückelt. Schlimme Hände. Böse Hände. Als ich reinkam, habe ich diese Hände geschüttelt. Jetzt greifen diese Hände nach einer Kaffeetasse, nach einem Stück Gebäck.
Ich sehe in Gesichter. Es sind die Gesichter von Mördern, von Totschlägern, von Vergewaltigern, die uns bei einer zufälligen Begegnung in einer Fußgängerzone nicht sonderlich auffallen würden. Es sind dies die Gesichter von Menschen – Menschen wie du und ich.
Einmal im Monat treffen sich die Männer der Gruppe „Langes Leben“ im Kirchenraum der Justizvollzugsanstalt mit den Pfarrern zu einer Gesprächsrunde. Wer hier herkommt, verbüßt mindestens eine lebenslange Haftstrafe. Einige der Männer sind in der Sicherungsverwahrung. Ob sie je wieder in die Freiheit entlassen werden, ist völlig offen.
So wie Frank. Der eher unscheinbare Mann hat Schlimmes getan. Unfassbar Schlimmes. Wochenlang hat er mit seinen Taten die Schlagzeilen der Zeitung mit den großen Buchstaben geliefert. Von einer Bestie war die Rede, die um der puren Lust willen gemordet hat.
Frank weiß selber, dass er eine Gefahr für die Allgemeinheit ist; dass er „da draußen“ vermutlich wieder morden würde. Er selbst hält sich für nicht therapierbar. Die Lust, andere Menschen zu quälen und zu töten, ist so stark, unkontrollierbar und allmächtig, dass er selbst oft daran zweifelt, ob ihm eine Psychotherapie oder Medikamente dauerhaft helfen können.
Im September 2000 ist er nach einer ganzen Reihe von Morden „in den Knast eingefahren“, wie die Gefängnisinsassen den Beginn ihrer Haftstrafen nennen. Wenige Monate vorher war er gerade 31 Jahre alt geworden. Im Gefängnis ist Frank Realist geworden: „Ich komme hier nur noch als Asche raus. Eine andere Chance habe ich nicht mehr. Aber das ist auch gut so. In der Welt da draußen würde ich gar nicht mehr klarkommen.“ Immerhin nimmt er inzwischen Hilfe an, um mit den Abgründen seiner Psyche leben zu können.
In der Gruppe hat er gelernt, sich zu öffnen: „Hier kann ich offen über meine Taten reden, ohne dass mir Vorwürfe gemacht werden. Wenn ich sonst darüber erzähle, habe ich immer eine Riesenangst und möchte am liebsten im Boden versinken.“
Pfarrer Rolf Stieber hat lange um den Zugang zu Frank gekämpft, durfte ihn nur im so genannten „Trennscheibenraum“ besuchen, weil er als so gefährlich galt: „Frank ist ein Mensch mit einer ungeheuer abgründigen Seite. Die Teilnahme an der Gruppe und die Erfahrung, dort trotz seines Rufes akzeptiert zu werden, war ein großer Schritt für ihn, nachdem er jahrelang nur auf seiner Zelle war.“
Fünfzehn Männer sind an diesem Abend in die Kirche gekommen. Normalerweise teilen sie sich auf zwei Gruppen auf. Maximal zehn gehören zu einer Gruppe. Aber dieses Mal kommt jemand „von draußen“. Deshalb wurden die Gruppen zusammengelegt. Vorher sind sie gefragt worden, ob sie bereit sind, mit einem Journalisten zu reden. Das haben sie bisher noch nie getan. „Für uns interessiert sich doch keiner“, sagt einer. „Für die Menschen da draußen sind wir doch nur Abschaum.“ – „Mörderklub“ nennt man ihre Runde knastintern.
Wer zu den Pfarrern Rolf Stieber oder Adrian Tillmanns in die Gruppe geht, muss vor allem zu etwas bereit sein, was die Knastregeln, die die Gefangenen aufstellen, eigentlich strikt verbieten: Schwäche zulassen und sich das eigene Leben nicht schönreden. „Alle Männer“, so Stieber, der seit fast zwanzig Jahren in der Gefängnisseelsorge tätig ist, „bereuen ihre Tat oder ihre Taten zutiefst, setzen sich mit sich auseinander, was manchmal sehr weh tut. Sie tun also das, was man kirchlich Buße nennt.“
Es sei ihnen auch bewusst, dass sie mit ihren Taten neben dem Leben ihrer Opfer auch ihr eigenes Leben zerstört haben – und das ihrer Angehörigen. Stieber: „Das ist für die Männer oft noch schmerzlicher als die Zerstörung ihres eigenen Lebens.“
Sich öffnen, anderen mitteilen – das ist nicht unbedingt die Stärke von Männern, deren Leben oft eine einzige Spirale der Gewalt gewesen ist. Hier aber funktioniert das. „Das ist der einzige Ort, an dem man sein Herz ausschütten kann“, sagt Jimmy und klärt auch gleich auf, warum das so ist: „Im Gefängnis ist die Frage des gegenseitigen Vertrauens viel komplizierter als draußen. Aber hier in dieser Gruppe sind wir alle gleich, sind alle in der gleichen Situation, haben das gleiche Leid und die gleichen Schmerzen. Hier kann man auch mal in die Tiefe gehen und seine Fassade ablegen.“
Selbst die ganz Harten werden in dieser Gruppe irgendwann weich. „Es wird viel gelacht und auch mal gemeinsam geweint“, beschreibt Stieber die Atmosphäre. Ein besonderes Konzept, ein vorbereitetes Programm gibt es für die Abende in der Regel nicht. Auch Glaubensfragen stehen nicht im Mittelpunkt. Obwohl die beiden evangelischen Seelsorger, die die Gruppen leiten, dafür stets offen sind. Stieber: „Seelsorge bedeutet ja, dass das Thema Glauben immer auf der Tagesordnung steht. Aber wir machen das eigentlich nie explizit zum Thema.“ Wenn, dann ergibt sich das von ganz alleine.
So wie an dem Tag, als einer aus der Gruppe vom Krebstod seiner Frau berichtet hat. Da ist plötzlich eine unglaubliche Dynamik aus Trost und Mitgefühl entstanden, die man diesen Männern eigentlich gar nicht zutrauen möchte. „Aber“, sagt Jimmy „auch wir haben doch ein Herz“. Und dann pocht er sich mit der Faust auf seine Brust: „Hier drinnen sind keine Steine.“
Und doch bleibt immer wieder die Frage nach der Schuld, nach dem Leid, das sie über andere Menschen und deren Angehörige gebracht haben. Kann man das komplett ausblenden; einfach ignorieren? „Nein“, lautet die Antwort von Pfarrer Stieber. „Das kann man nicht und darf man auch nicht. Im Kontakt mit den Verurteilten weiche ich nicht von dem ab, was sie getan haben. Aber ich reduziere sie nicht allein auf ihre Taten, sondern begegne ihnen auf Augenhöhe. Ich möchte Gottes Liebe und Vergebungsbereitschaft mehr zutrauen als meinen menschlichen Vorstellungen.“
Angesichts der Lebensgeschichten, die ihm die Gefangenen anvertrauen, würde er mit diesen Vorstellungen nämlich allzu schnell ans Ende kommen. „Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass Gott die Sünde verabscheut, aber den Sünder liebt, ihm wie der Vater im Gleichnis Jesu entgegengeht, nach ihm Ausschau hält.“ Die Siegerländer Gefangenenmission habe dazu ein sehr schönes Motto: „Keinen Menschen aufgeben und sei er auch noch so tief gefallen, weil auch Christus keinen Menschen aufgibt.“