Chiles langer Kampf um eine neue Verfassung

Chile stimmt zum zweiten Mal binnen kurzem über einen neuen Verfassungsentwurf ab. Diesmal trägt er eine rechtskonservative Handschrift. Die verfassungsmäßige kurze Amtszeit der Regierungen begünstigt das Vorhaben nicht.

Regierungssprecherin Camila Vallejo baut schon mal vor: Die Bürgerinnen und Bürger hätten bei der vergangenen Wahl ihre Stimme für die verfassungsgebenden Räte abgegeben. Diese hätten monatelang an der Ausarbeitung eines Textes gearbeitet, der am Sonntag (17. Dezember) zur Abstimmung gestellt wird. Nicht mehr und nicht weniger, so die Sprecherin von Präsident Gabriel Boric; und: Dies sei keine Abstimmung über die Arbeit der Regierung.

Tatsächlich sagen einige Umfragen einen knappen Erfolg der Befürworter des neuen Entwurfs voraus; andere sehen das Nein im Vorteil. Eine seriöse Prognose scheint kaum möglich, auch weil schwer abzusehen ist, wie viele Chilenen tatsächlich zur Abstimmung gehen und welches Lager mehr mobilisieren kann. Eine Annahme des neuen, nun deutlich konservativeren Entwurfs wäre allerdings eine neuerliche Niederlage für die Linksregierung in Santiago, die mit schwachen Zustimmungswerten und zahlreichen innenpolitischen Krisen zu kämpfen hat. Ihr wird unter anderem Versagen bei der inneren Sicherheit vorgeworfen.

Die neue Verfassung soll das aktuelle Grundgesetz ersetzen, das noch aus der Zeit der brutalen rechten Militärdiktatur von General Augusto Pinochet (1973-1990) stammt. Die Ablösung dieser Verfassung war eines der zentralen Anliegen der überwiegend von der jungen Generation Chiles getragenen Sozialproteste 2019 und 2020. Fast 80 Prozent der Wähler hatten dafür gestimmt, die „Pinochet-Verfassung“ durch einen neuen Entwurf zu ersetzen. Doch die Beschränkung des Präsidenten auf lediglich eine einzige Amtszeit von vier Jahren – eine strikte Konsequenz aus der Diktaturzeit – begünstigt in Chile keine längerfristigen Weichenstellungen.

Die Proteste von 2019/20 mündeten auch in die Wahl des ehemaligen Studentenführers Gabriel Boric, der im März 2022 sein Amt mit nur 35 Jahren antrat. Es folgte eine von linken politischen Kräften dominierte verfassungsgebende Versammlung, die bis 2022 ein neues Grundgesetz ausarbeitete. Es hätte unter anderem ein Recht auf Wohnraum, Bildung und Gesundheit garantiert, eine Frauenquote von 50 Prozent in allen Staatsorganen festgeschrieben und den indigenen Gemeinschaften ein Selbstbestimmungsrecht eingeräumt. Doch mit 62 Prozent Ablehnung erteilten knapp zwei Drittel der Chilenen dem Entwurf eine klare Absage – er war ihnen zu links.

Nun folgt ein zweiter Versuch; diesmal über verfassungsgebende Räte, die nach vorheriger Wahl von rechten und konservativen Parteien dominiert wurden. Entsprechend sind die Schwerpunkte gesetzt: eine verschärfte Abtreibungsregelung, Abschiebung von illegal ins Land gekommenen Ausländern sowie ein Streikverbot für Beamte. Nun kritisieren die Gegner: Der neue Entwurf ist ihnen zu rechts.

Zu den prominentesten Kritikerinnen gehört die linksgerichtete Ex-Präsidentin und frühere UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet. Die 72-Jährige sprach sich klar gegen die neue Vorlage aus, da sie einen Rückschritt bei den Frauenrechten bedeuten würde. Bachelet warb in Medien-Kolumnen für ein Nein – was ihr den Vorwurf der Einmischung in den Wahlprozess einbrachte. Rechtsgerichtete Politikerinnen wie Constanza Hube oder Marcela Cubillos warfen Bachelet zudem vor, gezielt Lügen über den Verfassungsentwurf zu verbreiten und deren Inhalte zu verdrehen.

Politisch hat die Abstimmung eine große Strahlkraft. Sollte die Rechte in Chile zum zweiten Mal binnen eines Jahres eine Abstimmung über Verfassungsentwürfe gewinnen, wäre das ein schwerer Schlag für die Regierung Boric. Von der Stimmung der Sozialproteste 2019/2020, die ein neues Chile forderten, wäre dann nicht mehr viel übrig. Sollte der neue Entwurf abgelehnt werden, würde das hingegen die erste Abstimmungsniederlage von 2022 entkräften und Rückenwind für Boric bedeuten. Immerhin scheint sich der Präsident derzeit politisch zu erholen. Eine Anfang November veröffentlichte Umfrage sah die Zustimmung für ihn um 4 Prozentpunkte auf 37 Prozent steigen – den höchsten Wert seit über einem Jahr.