Cannes: Unter vielen alten Bekannten schließlich ein heißer Kandidat

Stets dieselben Leute einzuladen, bringt Beständigkeit, aber auch einen gravierenden Nachteil: Man kann von ihnen nur eingeschränkt Neues erwarten. Thierry Frémaux, der seit mehr als 20 Jahren das Programm für das Filmfestival in Cannes bestimmt, hat es zu seiner Marke gemacht, den Wettbewerb an der Croisette als Stammtisch renommierter Filmemacher – darunter nur gelegentlich Frauen – zu organisieren, zu dem jeweils einige wenige Newcomer dazustoßen dürfen. Die Nachteile dieser Strategie zeigen sich in dieser 77. Ausgabe des Festival deutlicher denn je: Es droht, ein Jahrgang der Wiederholung und des Selbstzitats zu werden.

Ausgerechnet der 85-jährige Francis Ford Coppola, bereits zweifacher Cannes-Gewinner, bildete da noch eine Ausnahme. Zwar war sein überbordender neuer Film „Megalopolis“ gespickt mit Selbstzitaten, gleichzeitig aber bewies Coppola mit dem Projekt einen Wagemut und eine Lust am Risiko, die selbst den schärfsten Kritikern in Cannes noch Bewunderung abrang.

Anders verhält es sich mit dem griechischen Regisseur Yorgos Lanthimos, der noch vor wenigen Monaten für seinen Film „Poor Things“ als mehrfacher Oscar-Kandidat gefeiert wurde. Sein Episodenfilm „Kinds of Kindness“, der nun im Wettbewerb von Cannes Premiere feierte, glänzt zwar erneut mit Starbesetzung – Emma Stone, Willem Dafoe -, liefert aber wenig mehr als eine uninspirierte Rückkehr zu jener qualvollen Absurdität, die seine frühen Filme „Dogtooth“ und „The Killing of a Sacred Reindeer“ ausmachte. Die drei Episoden des neuen Films geben zwar vor, Arten von Ausbeutung und Abhängigkeit zu erforschen, erweisen sich aber als spekulatives Spiel mit Body-Horror-Elementen. „Kinds of Kindness“ ist allzu selbstverliebt in den eigenen Mut zur „Perversität“.

Der chinesische Regisseur Jia Zhangke wiederum thematisiert wie kein anderer seiner Landsleute in den vergangenen 20 Jahren die massiven Umschwünge in seiner Heimat. Mit seinem neuen Film „Caught by the Tides“ präsentiert er eine Retrospektive. Dazu montiert er Ausschnitte aus seiner Filmarbeit der zurückliegenden zwei Jahrzehnte neu zu einer losen Handlung mit der Schauspielerin Zhao Tao, die in fast allen seinen Filmen spielte und mit der er verheiratet ist, im Zentrum. In der Schlussequenz, der einzigen, die original für den Film gedreht wurde, finden aktuelle Bezüge auf Covid, künstliche Intelligenz und die Bizarrerien von TikTok Eingang. Nicht ohne Reiz, ist „Caught by the Tides“ in erster Linie ein Film für Kenner.

Paul Schrader, mit 77 Jahren ein weiterer großer Alter des diesjährigen Wettbewerbs, schlägt den gegensätzlichen Weg zu Coppola ein: seine Filme werden immer kleiner und privater – und selbstbestimmter. „Oh, Canada“, den er nun im Wettbewerb vorstellte, fällt fast schon zu intim aus, wenngleich prominent besetzt mit Richard Gere und Jacob Elordi. Ein für seine anti-amerikanischen Dokumentationen gefeierter Regisseur gibt ein letztes Interview. Herauskommt, dass seine Widerstandstaten weniger groß waren als behauptet und dass er mit den Frauen seines Lebens stets schlecht umging. Die Vignetten-Struktur lässt den Schauspielern leider nur wenig Möglichkeit zur Entfaltung. Schraders in der Sache durchaus berechtigter Film kann sich nur wenig Chancen auf eine Auszeichnung ausrechnen.

Als erster wirklich heißer Kandidat auf die Goldene Palme stellte sich ein anderer Altmeister, der 72-jährige Franzose Jacques Audiard heraus. Der Regisseur von „Un prophète“ und „Dheepan“ (mit dem er 2015 eine umstrittene Goldene Palme gewann) wagt sich in seinem „Emilia Perez“ auf radikal neues Terrain: ein spanischsprachiges Musical, in dem ein mexikanischer Drogenboss nach Jahren des Verbrechens sein innerstes Bedürfnis danach erfüllt, eine Frau zu werden. Die Handlung ist mehr Telenovela als Gangsterdrama: als Frau schlägt sich der Schwerverbrecher auf die gute Seite und gründet eine NGO, die sich der Suche nach den verschwundenen Opfer des Drogenkriegs widmet. Aber alte Konkurrenz- und Eifersuchtsgefühle lassen sich nicht für immer beerdigen und sorgen für ein wahrhaft melodramatisches Finale.

„Emilia Perez“ war der bislang einzige Film im diesjährigen Wettbewerb, der das Publikum richtig begeisterte, unter anderem sicherlich wegen der Glanzleistung der spanischen Transgender-Schauspielerin Karla Sofía Gascón in der Titelrolle. Die Darstellerinnen Zoe Saldaña und Selena Gomez dürfen ihre lateinamerikanischen Wurzel herausstreichen und fließend zwischen Englisch und Spanisch wechseln. Musikalisch nicht völlig überzeugend, kann der Film jedoch mit originellen Choreographien bestechen. „Emilia Perez“ gilt nun als Anwärter auf gleich mehrere Palmen, sei es als Film, für die beste Regie oder die Darstellerinnen.