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Esther Kinskys Buch ist eine Liebeserklärung an die Magie des Kinos.

Ein leerstehendes Kino als zentraler Handlungsort der Geschichte
Ein leerstehendes Kino als zentraler Handlungsort der GeschichtePromofoto: Suhrkamp Verlag

Die deutsche Schriftstellerin Esther Kinsky hat eine Reiseerzählung geschrieben, die zugleich ein romanhafter Essay über die Magie des Kinos ist. Ihr Text ist ein mitreißender, teilweise sehr poetischer Hochgesang auf diesen Kulturort und auch ein wehmütiger, illusionsloser Abgesang auf seine Bedeutung.

Das bildet den Hintergrund für eine melancholische, zugleich ironische Geschichte, nicht ohne Humor: Die aus Deutschland kommende Ich-Erzählerin entdeckt in einer Kleinstadt im Südosten Ungarns ein großes leerstehendes Kinogebäude. Sie besichtigt das dem Verfall preisgegebene Haus und versucht, es wieder mit Leben zu füllen und wieder kinotauglich herzurichten. Ihr Hauptunterstützer dabei wird der ehemalige Filmvorführer Józsi, der nach der Schließung des Kinos mit Fahrradrepa­raturen seinen Lebensunterhalt verdient. Im erneuerten Kino will er wieder Filmvorführer werden.

Dem Verfall preisgegeben

Zum Saubermachen, zum Umbauen, zum Malern werden Frauen und Männer engagiert, von denen die Älteren noch Erinnerungen an das Kino haben. Für die Jüngeren bleibt es ein Ort ohne Erinnerung und ohne Verheißung. Es endet, wie es vorauszusehen war: Die Besucher bleiben aus. Die kinobegeisterte Ich-Erzählerin verkauft das Haus an einen Mann, der es zur Bowling-Bahn umbauen will. Zu Beginn der Umbauarbeiten stirbt er. Als die frühere Besitzerin 16 Jahre später wiederkommt, ist das Gebäude erneut dem Verfall preisgegeben, „nur fehlt jetzt jede Hoffnung“.

Das Verschwinden von Kinos erklärt die Autorin mit der Privatisierung aller Erfahrungen, mit dem stärker gewordenen Individualismus. Ging man früher in einen Raum des gemeinsamen Sehens, ist es heute üblich, im privaten Raum allein oder mit ein paar vertrauten Mit-Zuschauern am eigenen Bildschirm sich Filme anzusehen. Das Kino ist zum Ausnahmeort geworden. Jeder kann „Vorführer am eigenen Bildschirm“ sein. Es geht nicht mehr ums Wie-Sehen, vielmehr nur noch ums Was. Die dem Kino entfremdeten Menschen werden von der Autorin nicht denunziert, aber sie bedauert die nicht mehr umkehrbar scheinende Entwicklung.

Esther Kinsky, Weiter Sehen,
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023,
179 Seiten, 24 Euro