Buchautorin Buschmann über den Umgang mit Behinderung

Alina Buschmann ist Schauspielerin, Beraterin zu Inklusion und Antidiskriminierung. Unter dem Namen Dramapproved setzt sie sich online gegen die Benachteiligung von Behinderten ein. Zusammen mit Luisa D’Aucace brachte sie kürzlich das Buch „Angry Cripples“ heraus, in dem behinderte Menschen über ihre Erfahrungen sprechen. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) erklärt Buschmann, warum sie sich gegen strukturelle Diskriminierung einsetzt.

KNA: Frau Buschmann, der Titel Ihres neuen Buchs lautet „Angry Cripples“, also wütende Krüppel. Wie viel Wut steckt darin?

Buschmann: In dieses Buch haben wir unser ganzes Herz und viel Arbeit hineingesteckt. Dazu gehört auch eine Grundwut. Persönlich hatte ich lange Zeit das Gefühl, dass etwas an mir falsch ist, weil ich die Erwartungen an mich nicht erfüllen konnte. Als ich in der Community von anderen behinderten Menschen las, verstand ich auf einmal: An mir ist nichts falsch. Falsch ist das System. Das war sehr empowernd für mich.

KNA: Was für ein System meinen Sie?

Buschmann: Mit „System“ meine ich Ableismus: Das ist nicht einfach dasselbe wie Behindertenfeindlichkeit. Ableismus ist die strukturelle Diskriminierung von behinderten und chronisch kranken Menschen. Wir alle sind aufgewachsen in einem System, das uns vermittelt, leistungsfähig sein zu müssen. Wenn Menschen diese Anforderungen erfüllen, dann ist das gut. Wenn Menschen behindert oder chronisch krank sind und gewisse Anforderungen nicht erfüllen können, ist das schlecht. Weil wir alle ableistisch sozialisiert wurden, ist davon auch niemand frei.

KNA: Niemand?

Buschmann: Diese Diskriminierung läuft nicht bewusst ab. Sondern es geht hier um Glaubenssätze, die wir von Kindheit an erlernt haben. Ich sage deshalb immer: Wir müssen ableistische Vorurteile aktiv verlernen.

KNA: Wie haben Sie selbst Diskriminierung erlebt?

Buschmann: Lange Zeit wusste ich nicht, dass ich behindert bin. Ich wurde deshalb als nichtbehindertes Kind sozialisiert – also bin ich privilegierter als viele andere behinderte Menschen. Ich habe mich schon immer gefühlt, als würde ich nicht reinpassen. Ich sage immer: Ich habe mich gefühlt wie ein Alien.

KNA: Wie macht sich die Diskriminierung von behinderten Menschen heute im Alltag für Sie bemerkbar?

Buschmann: Unter anderem im Gesundheitssystem macht sich das bemerkbar: Dort gehen Menschen von einer bestimmten Vorstellung von Körpern und Fähigkeiten aus. Wer nicht in diese Vorstellung passt, wird häufig nicht ausreichend versorgt.

Auch beim Thema Arbeit macht sich Ableismus stark bemerkbar. Der Mindestlohn zum Beispiel gilt nicht für behinderte Menschen, die in Werkstätten arbeiten. Auch ich als behinderte Beraterin muss meistens über ein faires Honorar diskutieren. Vielen Menschen ist gar nicht bewusst, dass die Honorare für behinderte Menschen anders gestaltet werden müssen, um tatsächlich fair zu sein. Wenn ich zum Beispiel einen Vortrag oder Workshop zu Ableismus in Präsenz halte, braucht mein Körper danach einige Tage, um sich zu erholen. Dementsprechend muss ich meine Preise anpassen.

KNA: Wie können Betroffene mit Diskriminierung umgehen?

Buschmann: Es gibt unterschiedliche Strategien. Mir hilft es zu sehen, dass andere Menschen die gleiche Lebensrealität haben. Das macht die Diskriminierung nicht weniger schlimm. Aber es lenkt von dem Gedanken ab, dass ich Schuld daran bin, dass ich diskriminiert werde. Lange konnte ich meine Lebensrealität und die dazugehörige Diskriminierung nicht benennen. Mir fehlte eine Community, mit der ich mich identifizieren und austauschen konnte.

KNA: Helfen Vokabeln wie „behindert“?

Buschmann: Ja, Wörter, die das was dir passiert beschreiben, machen vieles einfacher. Ich kann damit die Mechanismen von Diskriminierung benennen. Das gibt mir Handlungsmacht.

KNA: Das Wort „behindert“ wird oft noch abwertend gebraucht. Wenn Sie sich diesen Begriff für sich übernehmen, akzeptieren Sie die Diskriminierung damit nicht ein Stück weit?

Buschmann: Behinderung ist erst einmal ein neutrales Merkmal. Allerdings wird Behinderung in der Gesellschaft leider immer noch als etwas Negatives wahrgenommen. Wenn wir über unsere Lebensrealität und Identität als behinderte Menschen sprechen, ist das an sich schon politisch und ein Akt des Widerstands. Fakt ist, dass struktureller Ableismus existiert, egal welche Selbstbezeichnung wir nutzen.

KNA: Manche behinderte Menschen treten in der Öffentlichkeit als Mutmacher auf. Warum machen Sie das nicht?

Buschmann: Von Motivational Speaker*innen wird erwartet, dem Publikum ein gutes Gefühl zu geben. Nicht-behinderte Menschen hören dann beispielsweise behinderten Motivational Speaker*innen zu und denken sich Dinge wie „Wenn die Person mit diesem schlimmen Leben das schafft, dann schaffe ich das ja locker“. Das impliziert allerdings, dass die Lebensrealität behinderter Menschen zwangsläufig eine Schlimme sei. Das Leben von behinderten Menschen ist so individuell wie behinderte Menschen selbst. Natürlich ist nicht immer alles super. Und passieren genauso schlechte Dinge – wie nicht-behinderten Menschen auch. Behinderung sollte langfristig in der Gesellschaft als das neutrale Merkmal angesehen werden, das es ist.

KNA: „Behindert“ wird oft in Abgrenzung verwendet von etwas, das als vermeintlich „normal“ gilt: Wer zum Beispiel sehbehindert ist, erfüllt nach dieser Definition bestimmte vorausgesetzte Sehstandards nicht. Ist eine neutrale Definition von „behindert“ überhaupt möglich?

Buschmann: Von Sehbehinderung sprechen wir in der Medizin, wenn die Sehbehinderung nicht mehr durch eine Brille ausgleichen werden kann. Dadurch entstehen für unterschiedliche sehbehinderte Menschen unterschiedliche Barrieren. Wenn wir generell von Behinderung sprechen, geht es um die Barrieren, auf die behinderte Menschen in unserer Gesellschaft stoßen und die strukturelle Diskriminierung, die behinderte Menschen erfahren.

„Behindert“ ist unsere politische Selbstbezeichnung. Dass Menschen diese Bezeichnung nehmen und zum Beispiel als Schimpfwort missbrauchen, ändert nichts daran. Unsere Identität als behinderte Menschen ist nichts Negatives. Das Negative an unserer Lebensrealität ist der fest in unserer Gesellschaft verankerte Ableismus.

KNA: Wie wurden Sie zur Aktivistin?

Buschmann: Das ist schleichend passiert. Meine Barrierefreiheitsanforderungen haben sich geändert und ich konnte nicht mehr als Schauspielerin arbeiten. Diese Branche ist nicht inklusiv. Wenn du nicht genug Prestige hast, darfst du keine Anforderungen an deine Arbeit stellen. Das gilt leider oft auch für Barrierefreiheitsanforderungen, obwohl diese Teilhabe bedeuten und Teilhabe ein Menschenrecht ist. Auf Instagram begann ich, meine Erfahrungen zu teilen. Als ich mich mehr und mehr in der Community zurecht fand, wurde ich aktivistisch. Ich fand es wichtig aufzuzeigen, dass strukturelle Diskriminierung für meine Erfahrungen verantwortlich ist.

KNA: Im Buch sprechen Sie von „Cripples“. Dieser Begriff wird häufig abwertend gebraucht. Wieso haben Sie sich entschlossen ihn zu nutzen?

Buschmann: „Angry Cripple“ wird häufig genutzt, um behinderte Menschen abfällig zu beschreiben, die angeblich zu laut oder zu wütend sind. Wir möchten uns diesen Begriff zurückholen, das heißt „Reclaiming“. Wir sind laut, wir sind wütend und wir haben das Recht dazu.

KNA: Auf Social Media gibt es immer mehr behinderte Menschen, die Diskriminierung thematisieren. Hat sich damit etwas verbessert?

Buschmann: Ableismus bekommt mehr Aufmerksamkeit. Medien thematisieren das Thema Behinderung öfter. Die Berichterstattung kommt aber meistens von nicht-behinderten Menschen, die ihre ableistische Sicht auf Behinderung reproduzieren. Entscheidungspositionen sind oft mit nicht-behinderten Menschen besetzt. Damit unsere tatsächliche Lebensrealität wiedergegeben wird, müssen sich die Strukturen ändern.

KNA: Inwiefern?

Buschmann: Es ist natürlich schön, wenn über Behinderung berichtet wird. Entscheidend ist allerdings, wie berichtet wird. Und solange die Menschen, die entscheiden, wie diese Berichterstattung aussieht, sich nicht mit ihrer ableistischen Sozialisation auseinandersetzen, reproduzieren wir immer wieder dieselben schädlichen Narrative. Wir brauchen mehr behinderte Menschen in den unterschiedlichsten Positionen und ableismus-kritische Reflexion in Institutionen.

KNA: Was wünschen Sie sich?

Buschmann: Ich wünsche mir mehr barrierearm durchsetzbare Rechte und tatsächliche Teilhabe für behinderte Menschen. Und ich wünsche mir mehr Repräsentation von behinderten Menschen. Natürlich wünsche ich mir auch, dass viele Menschen unser Buch lesen oder hören und die großartige Arbeit unserer Autor*innen und Künstler*innen sehen.