Tiktok wird immer beliebter und immer umstrittener. Ein Sachbuch der Tech-Journalistin Emily Baker-White schaut hinter die Kulissen der App – und macht plausibel, warum sie wieder und wieder für politischem Streit sorgt.
Bücher über Plattformen, Social Media und das Internet sind in den vergangenen Jahren viele geschrieben worden. Die meisten zeigten vor allem, dass es an starken Meinungen zum Thema nicht mangelt. Insbesondere die Unternehmen, die hinter den Plattformen stehen, wurden in ein immer schlechteres Licht gerückt – oft mit Recht. Was hingegen oftmals fehlt, ist gründliche Recherche über die Machenschaften der Tech-Konzerne, die über bloßes Hörensagen hinausgeht. Vor allem deshalb ist das Buch “TikTok Time Bomb” der US-amerikanischen Tech-Journalistin Emily Baker-White eine erfrischende Ausnahme.
Der Streit um die chinesische Kurzvideoplattform Tiktok, die inzwischen von Milliarden Menschen genutzt wird, schwelt vor allem in den USA seit Jahren und hat immer wieder geopolitische Dimensionen angenommen. Präsident Donald Trump wollte die App während seiner ersten Amtszeit verbieten, um China eins auszuwischen. Seine Verordnungen wurden aber von Gerichten kassiert und Tiktok konnte weiter machen – bis der Kongress unter Präsident Joe Biden entschied, dass Tiktok an ein US-Unternehmen verkauft werden oder seine Tätigkeit in den USA einstellen müsse.
Ein Gesetz, das Trump in seiner zweiten Amtszeit geerbt hat und das er – inzwischen zum Tiktok-Fan gewandelt – seit Monaten nicht umsetzt. Warum die Sache so verzwickt ist, versteht man nach knapp 400 Seiten “TikTok Time Bomb” um einiges besser. Wenige außerhalb von Tiktok und dem Mutterkonzern Bytedance kennen die Sachlage so gut wie Baker-White, die seit Jahren über Tiktok berichtet – erst für Buzzfeed, mittlerweile für das US-Wirtschaftsmagazin “Forbes”. Die Journalistin erklärt, was Gründer und Entwickler mit Tiktok einst im Sinn hatten, aus welchem Mindset heraus sie unternehmerische und technische Entscheidungen treffen – und welches Chaos im Unternehmen bis heute zu herrschen scheint.
Der Gründer des Mutterkonzerns Bytedance, Zhang Yiming, wollte weltweit erfolgreiche Apps entwickeln. Er glaubt fest daran, dass Algorithmen besser darin sind, Menschen die Inhalte zu liefern, die sie wirklich sehen wollen, als menschliche Entscheider. Doch noch nie wurde in einer Veröffentlichung über Tiktok so deutlich wie in diesem Buch: Es geht einfach nicht.
Man kann keine Plattform wie Tiktok führen, die sich gleichzeitig an chinesische und US-amerikanische Gesetze hält. Die Anforderungen an Unternehmensführung, Zensur, Meinungsfreiheit und Moderation sind zu unterschiedlich; der Tanz auf der Rasierklinge muss früher oder später zu Fehltritten führen.
Während in der EU vor allem über Jugendschutz, Suchtpotenzial und Radikalisierung diskutiert wird, stören sich die USA bei Tiktok an zwei ganz anderen Dingen: an der Weiterleitung von US-Nutzerdaten nach China und am möglichen Einfluss der chinesischen Regierung auf den Algorithmus – und damit den Medienmix, der bei den US-Bürgerinnen und -Bürger ankommt. Hier sehen viele in den USA eine Gefahr für die nationale Sicherheit, was im vergangenen Jahr schließlich zum Erlass des Verbots oder erzwungenen Verkaufs der Plattform führte.
Den Regulierern muss allerdings auch damals klargewesen sein, dass ein Verkauf, der tatsächlich das US-Geschäft ganz von China trennt – so sieht es das Gesetz offiziell vor – nicht denkbar ist. Denn die chinesische Regierung müsste einen solchen Verkauf genehmigen, was sie in der Vergangenheit immer ausgeschlossen hat.
Um ein Verbot zu verhindern, versuchte das Unternehmen über Monate oder sogar Jahre, selbst herauszufinden, welche chinesischen Mitarbeiter Zugriff auf welche US-Nutzerdaten haben. So genau weiß das wohl bis heute niemand. Das ist vor allem heikel, weil ein chinesischen Geheimdienstgesetz jeden Staatsbürger zwingt, auf entsprechende Aufforderung Informationen über jeden Menschen an die kommunistische Partei weiterzugeben – ob in China oder im Ausland.
Das bekam Baker-White auch am eigenen Leib zu spüren. Zu einer Zeit, in der Tiktok öffentlich wiederholt versprochen hatte, dass die Daten der US-Nutzer nicht nach China gelangen, wurden die Daten der Journalistin trotzdem zu chinesischen Bytedance-Beschäftigten geschickt. Sie hatte über interne Dokumente von Tiktok berichtet und die Konzernspitze wollte den Whistleblower finden, der ihr die Informationen zugespielt hatte. Der Skandal beschleunigte 2023 den politischen Prozess rund um das Verbot in den USA.
Wie es mit Tiktok in den USA weitergeht, ist derzeit dennoch unklar. Anders als in der EU gibt es in den USA keine Datenschutzgesetze oder andere Formen der Regulierung im Netz, die Tiktok einhegen könnten. Trotz der jetzt geschwungenen Verbotskeule scheint es aber unwahrscheinlich, dass Trump das Gesetz im Sinne der Erfinder umsetzt. Doch nach der Lektüre von “TikTok Time Bomb” wird klar, dass auch die EU aktiver werden müsste und nicht einfach laufen lassen kann, was in der Konzernzentrale von Bytedance ersponnen wird. Allein für diese Erkenntnis lohnt es sich, zu Baker-Whites Buch zu greifen.