Buch-Tipp: „Herkunft“ – Erfahrungsbericht eines Migranten

Saša Stanišić schreibt Geschichten über die eigene Fluchterfahrung, seine Familie und das Aufwachsen in Bosnien.

Das Buchcover
Das BuchcoverLuchterhand Literaturverlag

Wer einmal keine Sonntagsreden über Migration hören will, sondern einen Erfahrungsbericht eines Migranten aus Deutschland, bei dem man über nicht so schöne Erlebnisse trotzdem Tränen lachen kann, dem sei die autobiografisch grundierte Geschichtensammlung „Herkunft“ von Saša Stanišić empfohlen.

„Bosnien“ oder doch „Boston“?

In einer der paradigmatischen Erzählungen des Buches beschreibt Stanišić, der mit seinen Eltern nach der serbischen Eroberung seiner Heimat aus Bosnien fliehen musste, wie er in die Familie eines Heidelberger Klassenkameraden eingeladen ist. In dem Professorenhaushalt sind weitere Gäste anwesend und die Antwort von Saša Stanišić, wo er aufgewachsen sei, wird missverstanden. Statt „Bosnien“ hört die Runde „Boston“ – und es entwickelt sich ein höchst komisches Gespräch mit ihm über seine Erlebnisse in der amerikanischen Stadt, in der er bis dato noch nie gewesen war.

Finale zum Selbstwählen

Die vielfach ausgezeichnete Sammlung von Erzählungen, in denen es auch Essay-artige Abschnitte gibt und mehrere Möglichkeiten, sich beim Lesen selbst ein Finale zu wählen, besticht durch sehr präzise Zeichnungen von Personen und Situationen. Sie besteht aus meist sehr kurzen Erzählungen von wenigen Seiten, die lebendig eine meist urkomische Szene schildern. Die demente Großmutter, der plötzliche Einbruch des Irrsinns eines Völkermords in die beschauliche kleinstädtische Kindheit, die Schwierigkeiten der Eltern, im erlernten Beruf auch in Deutschland zu arbeiten und das schreckliche Fanal von Rostock-Lichtenhagen 1992. Diese für viele Menschen mit migrantischem Hintergrund traumatischen Erlebnisse werden nicht verdrängt, sondern bilden den Hintergrund von Szenen, die von der Tragikomik in die Komik wechseln. Nicht zuletzt aufgrund der wunderbaren Ironie und großen stilistischen Treffsicherheit des Autors: „Meine Großmutter besaß ein Nudelholz, mit dem sie mir Prügel androhte. Es kam nicht dazu, ich habe aber bis heute ein reserviertes Verhältnis zu Nudelhölzern und indirekt auch zu Teigwaren.“

Saša Stanišić, Herkunft, Luchterhand Literaturverlag, München 2019, 368 Seiten, 12 Euro