Blick in die Zukunft
Über den Predigttext zum 1. Sonntag im Advent: Offenbarung 5, 1-7
Predigttext
1 Und ich sah in der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß, ein Buch, beschrieben innen und außen, versiegelt mit sieben Siegeln. 2 Und ich sah einen starken Engel, der rief mit großer Stimme: Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen? 3 Und niemand, weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde, konnte das Buch auftun noch es sehen. 4 Und ich weinte sehr, weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch aufzutun und hineinzusehen. 5 Und einer von den Ältesten spricht zu mir: Weine nicht! Siehe, es hat überwunden der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, aufzutun das Buch und seine sieben Siegel. 6 Und ich sah mitten zwischen dem Thron und den vier Wesen und mitten unter den Ältesten einen jungen Widder stehen, wie geschlachtet; er hatte sieben Hörner und sieben Augen, das sind die sieben Geister Gottes, gesandt in alle Lande. 7 Und er kam und nahm das Buch aus der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß.
Bitte nicht spoilern!“ Es dauerte ein wenig, bis ich mich an diesen Ausdruck gewöhnt hatte. Bitte nicht das Ende vorwegnehmen, bei einem Buch, einem Film oder einem Sportereignis! Dann ist die Spannung raus und der Genuss ruiniert, „gespoilert“. Ich kenne andererseits nicht wenige Menschen, die machen genau dies: Sie lesen bei einem spannenden Roman zunächst das Ende. Oder den Wikipedia-Artikel zu einem Film.
Und im Blick auf unsere Lebensgeschichte? Wer möchte nicht gerne wissen, wie es ausgeht? Welche Entscheidungen richtig sind? Ob ich meine Krankheit besiegen werde? Ob die Weihnachtsmärkte dieses Jahr vom Terror verschont bleiben?
Wo führt das hin mit unserer Welt?
Solche Fragen stellten sich in der Situation unseres Predigttextes. Die junge Christenheit wird im römischen Staat bedrängt. Und hier, im Buch mit den sieben Siegeln, ist aufgeschrieben, wie es ausgehen wird. Gottes Plan mit der Welt. Das Storyboard der Weltereignisse. Lesen wir genauer, sehen wir eine versiegelte Schriftrolle. Eine Herrschaftsurkunde. Wenn ihre Geltung bestritten wird, muss ihr Siegel geöffnet werden.
Aber niemand kann das Siegel öffnen. Auch Johannes blickt nicht von einer gleichsam höheren Warte auf das Geschehen, sondern wird zum Bruder und Mitgenossen in der Bedrängnis. Er steht wie wir vor der Frage: Wo führt das alles hin? Ist dem Schöpfergott alles aus den Händen geglitten? Wer öffnet die Siegel und damit das Buch?
Niemand – so wird ihm und uns deutlich.
Niemand kann verstehen oder verstehbar machen, was in unserer Welt abläuft. Niemand kann die Siegel öffnen. Johannes weint. Eine gute, wichtige Trauer. Es ist gut, nicht einfach über beunruhigende Dinge oder offene Fragen hinwegzugehen. Ja, Gott herrscht – aber die Welt kann es nicht sehen. Gott bleibt verborgen – und selbst die Gemeinde ist davon nicht ausgenommen. Sie hat keinen Sonderzugang, kein esoterisches Spezialwissen. Johannes weint über die universale Unfähigkeit, Gottes himmlische Herrschaft genauso real wahrzunehmen wie das irdische Geschehen.
Und dabei würde es bleiben – gäbe es da nicht noch eine weitere Gestalt! Einen jungen Widder, wie geschlachtet und trotzdem machtvoll aufrecht stehend. Ein paradoxes Bild, in dem wir Christus erkennen. Politisch ermordet und Herr über Leben und Tod. Gott gleich und in Windeln gewickelt.
Christus öffnet die Siegel und setzt Gottes Herrschaft in Kraft. Er eröffnet den Blick auf das Weltgeschehen. Und trotzdem wird das, was nun beginnt, nicht durchschaubar und klar. Viel Dunkles, Abgründiges, Chaotisches herrscht auch weiterhin. Und christlicher Glaube bleibt angefochten, zerbrechlich, bedroht. Aber Christus hält das Buch mit den sieben Siegeln in seiner Hand. Mit diesem Blick können wir Dunkles ertragen.
Wir haben das Buch mit den sieben Siegeln nicht in der Hand. In unsere Hand gehört stattdessen ein anderes Buch: Die Bibel bezeugt in Trost und Protest, wem die Erde gehört. Und dass Gott uns auch dort nicht allein lässt, wo wir keine verständliche Antwort mehr wissen. Das verschafft uns nicht die Sicherheit eines „gespoilerten“ Endes. Dann wäre der Glaube flach und banal. Aber mit dem Blick auf den Herrn der Weltereignisse dürfen wir vertrauen, dass dieser gekreuzigte, leidende Gott an unserer Seite mitgeht. Und an der Seite der Ertrinkenden, Krebszerfressenen und Bombenzerfetzten dieser Welt auch. In diesem Glauben, vom 1. Advent herkommend, können wir – ängstlich-verzagt, aber auch ein wenig trotzig und hoffnungsvoll – einstimmen in die Adventsbitte: „O Heiland reiß die Himmel auf!“