Bitterstoffe und Süße brauchen einander

Schokolade, Torten, selbst Tomatenketchup strotzen vor Zucker. Unsere Gaumen sind die Süße gewöhnt, bittere Lebensmittel meiden wir wie der Teufel das Weihwasser. Zu Unrecht, wie nicht nur Mediziner finden. Ein Plädoyer für mehr Bitterkeit

Oh süßer Zeitgeist. Der Kampf gegen die Bitterstoffe in Nahrungsmitteln nimmt inzwischen krude Formen an. Genuss wird in westlichen Breiten inzwischen fast nur noch mit Süßem assoziiert. Die Nahrungsmittelindustrie trägt diesem Trend Rechnung und reduziert durch Neuzüchtungen die Bitterstoffe von Endiviensalat, Radicchio und Chicoree. Die Nachricht, dass sich ein Rentner mit einer selbstgezogenen Riesenzucchini vergiftete und qualvoll am Bittergiftstoff Cucurbitacin starb, der uns auch in Kürbissen, Melonen und Gurken auflauern kann, schaffte es vor einiger Zeit als Horrormeldung in die Nachrichten.
Tatsächlich scheint es die Natur so eingerichtet zu haben, dass gewisse Pflanzen Bitteraromen entwickeln, um für interessierte Esser als ungenießbar zu erscheinen. Doch wie das Internetportal „Zentrum der Gesundheit“ nicht müde wird zu vermelden: Bitterstoffe sind für den Verdauungsprozess unverzichtbar. Sie beeinflussen auch alle anderen Körperfunktionen. Nur so können Vitalstoffe perfekt absorbiert und jede Zelle optimal versorgt werden. Mediziner verschreiben inzwischen Bittersubstanzen in Pillen und Tropfenform als Ernährungsergänzung für ihre überzuckerten Patienten.
Selbst ins Bier, neben dem Kaffee die letzte Domäne des bitteren Geschmacks, werden oft süße Getränke wie Limonaden und Cola gekippt. Trendige Alkoholika, die Jugendliche zum Komasaufen verleiten, sind meist Wodka-Saft-Kreationen, die die Hemmschwelle des Konsums drastisch senken.
Lediglich eine kleine kulinarische Minderheit schätzt noch die Qualität des Bitteren. Um schwarze Schokoladen mit einem Kakaoanteil von über 80 Prozent wird inzwischen ein wahrhafter Kult getrieben. Sterneköche kredenzen Wildpflanzen. Der Löwenzahn, einst ein Arme-Leute-Essen, wird zum Statussymbol einer neuen snobistischen Abgrenzung.
Ernährungshistoriker befürchten inzwischen, dass bei den zukünftigen Generationen die 25 Bitterrezeptoren der menschlichen Zunge kaum noch sensibilisiert werden. Essen, so schreibt die US-amerikanische Wissenschaftlerin Jay Robinson in ihrem Buch „Eating on the Wild Side“, soll sich wieder den „Juwelen des Nährwertes“ zuwenden wie etwa der Frühlingszwiebel oder der Rauke. Robinson kritisiert den Verzuckerungstrend am Beispiel des Maises. Dessen Zuckeranteil stieg in den letzten Jahrzehnten um 40 Prozent, die gesündere vielfarbige Urform der Indianer dient heute nur noch als Dekoration.
Dass wirkungsvolle Arzneien bitter sind, galt zu Urgroßmutters Zeiten. Selbst bittere Pillen werden heute mit einer Zuckerglasur ummantelt, das Bittere soll aus unserem Leben verschwinden. Auch in unserem Sprachgebrauch spiegelt sich diese Aversion wider: Etwas „ziemlich herb“ finden, auf jemanden „sauer“ sein oder „bitter“ enttäuscht zu werden zeigt unsere Vermeidungsstrategie. Sie umfasst inzwischen unsere gesamte Lebensführung. Alles soll möglichst easy going und unbeschwert vonstattengehen.
Aber kann man Süße überhaupt wertschätzen, wenn man nicht auch die Kehrseite kennt? Ein Lebensbereich, der diese Erkenntnis kultiviert, ist allenfalls noch das Glaubensleben: kein Seelenheil ohne vorheriges Durchschreiten des Tals des Todes. Im Christentum sind die Biternis und das Leiden entscheidender Widerpart, deren Überwindung die Erlösung überhaupt erst begründet. Ohne die Existenz der Bitternis kann die Süße gar nicht ermessen werden.
Der Verkümmerung der Geschmacksrezeptoren im Gaumen folgt demnach auch eine Verkümmerung unserer Seele. Es ist womöglich kein Zufall, dass ausgerechnet in der italienischen Küche bitterer Campari, Radicchio und Chicoree so geschätzt werden. Italien ist ein katholisches Land. Dort besteht noch ein Bewusstsein darüber, dass der Weg zur kulinarischen Seligkeit nur über die Bitterkeit davor erreicht werden kann. Eine Einsicht, die vielleicht auch in anderen Lebensbereichen Schule macht.