Bistum Essen lässt Vorwürfe gegen Kardinal Hengsbach untersuchen
Das Bistum Essen lässt die Missbrauchsvorwürfe gegen seinen früheren Bischof Franz Hengsbach (1910-1991) mit einer sozialwissenschaftlichen Studie und einer historischen Biografie aufarbeiten. In der ersten Phase des auf drei Jahre angelegten Forschungsprojekts sollen die aktuell erhobenen Tatvorwürfe und der Umgang der Verantwortlichen in der Diözese untersucht werden, wie die Wissenschaftler am Montag in München und Hamburg ankündigten. Betroffenenvertreter sehen das Vorhaben als Chance, „systemischen Ursachen“ von sexualisierter Gewalt in der Kirche auf den Grund zu gehen.
Mit Hengsbach steht erstmals ein deutscher Kardinal unter Verdacht, in seiner Amtszeit Minderjährige sexuell missbraucht zu haben. Er war von 1958 bis 1990 Bischof von Essen, zuvor Weihbischof in Paderborn. Seit der Veröffentlichung von zwei Verdachtsfällen vor einem Jahr hätten sich sieben weitere Betroffene möglicher sexualisierter Gewalt durch den früheren Ruhrbischof an das Bistum gewandt, sagte der Essener Generalvikar Klaus Pfeffer. Weitere Personen hätten angegeben, sich an anders gelagerte Fälle von Machtmissbrauch durch Hengsbach zu erinnern.
Die an dem Projekt beteiligten Forschungsinstitute wandten sich mit einem Aufruf an Menschen, die weitere Auskünfte zu Hengsbach geben können, sich bei ihnen zu melden. Das gelte etwa für Personen, die selbst von Grenzüberschreitungen, sexualisierter Gewalt oder Machtmissbrauch betroffen waren, dieses beobachtet oder davon berichtet bekommen haben. Auch wer den Bischof noch persönlich erlebt habe und über positive wie negative Erfahrungen berichten könne, solle sich an das Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) wenden.
Die Geschäftsführerin des IPP, Helga Dill, sicherte Auskunftgebern absolute Vertraulichkeit und eine anonyme Auswertung der Informationen zu. Sie bat, ebenso wie Generalvikar Pfeffer, auch Familienangehörige des vor über 30 Jahren gestorbenen Kardinals, sich zu melden und ihre Sicht in das Forschungsprojekt einfließen zu lassen.
Neben den konkreten Vorwürfen gegen den früheren Bischof wollen das in München ansässige IPP und die Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH) auch untersuchen, ob Hengsbach andere des sexuellen Missbrauchs beschuldigte Geistliche geschützt hat. Klären wollen die Forscher außerdem, welche Dynamiken die Beschuldigungen gegen den Kardinal bei beteiligten Institutionen auslösten und welche milieuspezifischen, religionsbezogenen und familienbiografischen Faktoren Hengsbach prägten.
David Rüschenschmidt von der FZH betonte, die geplante Biografie über Hengsbach solle „mehr als eine Skandalgeschichte“ sein. Der Kardinal sei eine „historische Schlüsselfigur“, bei der es eine Wechselwirkung zwischen ihr und den kirchlichen Strukturen gebe. Man wolle mit der Studie zugleich „allgemeine Tendenzen der Kirchengeschichte“ des 20. Jahrhunderts aufarbeiten.
Der Sprecher des Betroffenenbeirats der Deutschen Bischofskonferenz, Johannes Norpoth, hob eine „besondere Bedeutung“ der Studie hervor, weil in ihrem Zentrum erstmals ein hochrangiger Kleriker der Weltkirche stehe. Damit könne eine „noch detailliertere Darstellung von systemischen Ursachen sexualisierter Gewalt“ gelingen – „von intransparenten bis hin zu absolutistischen Machtstrukturen“. Norpoth wird demnach in einer Begleitgruppe des Projektes mitwirken.
Auftraggeber der Forschungen sind neben dem Bistum Essen das Erzbistum Paderborn, die Bischöfliche Aktion Adveniat, die katholische Soldatenseelsorge und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Auch in diesen Institutionen hatte Hengsbach an leitender Stelle gewirkt. Die miteinander kooperierenden Studien von IPP und FZH sind nach Angaben der Institute auf drei Jahre angelegt und sollen in eigenständige Buchpublikationen münden. Nach der ersten Phase wollen IPP und FZH erste Ergebnisse zu den konkreten Vorwürfen gegen Hengsbach veröffentlichen.